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Foto: Reuters
Im Kaufhaus 109 im Tokioter Stadtteil Shibuya riecht es nach Paris Hilton. In "Pinky Girls" genauso wie in "Dolce Rosa" oder in "Kiss Kiss", den Geschäften, die sich hier eng aneinander schmiegen. Haarverlängerungen bieten sie feil und Permanent Make-Up, High-Heels und Overknees. Die Waren funkeln und glitzern und vervielfachen sich in den Deko-Spiegeln. Als wäre man mitten in einer riesigen Diskokugel.

Auch die Musik-Beschallung stimmt. Sie stammt an diesem Morgen von der J-Pop-Queen Namie Amuro, der japanischen Britney Spears. Sie lächelt vom Cover des neuen Magazins, das beim Eingang des Kaufhauses verteilt wird, im Doppelpack gemeinsam mit dem Parfüm von Paris Hilton - einer süßlichen Promenadenmischung, die auch noch im letzten Stockwerk des riesigen Einkaufstempels hängt.

Das 109 ist das Tokioter Girlie-Paradies. Wer hierher kommt, hat die Haare blond und die Haut tropenbraun gefärbt und arbeitet mit Sicherheit nicht als Go-go-Tänzerin. Auch wenn man das als europäischer Besucher vielleicht annehmen könnte.

"Alles, was glitzert, finde ich toll!"

Dafür sind die Mädels schlichtweg zu jung. Auch Saori Noguchi. Die 15-Jährige ist mindestens zwei Mal im Monat im 109, "nur um zu sehen, was die neuesten Trends sind." Heute hat sie eine schwarze, schmale Krawatte gekauft, so eine, wie sie in Japan derzeit Mädels und Burschen gleichermaßen tragen - und ein mit Kristallen übersätes Etui für ihr Handy. "Alles, was glitzert, finde ich toll."

In Japan glitzert derzeit besonders viel. Sowohl auf der Straße als auch auf den Laufstegen. In Europa denkt man bei japanischer Prêt-à-Porter an die komplizierten Wickeltechniken von Comme des Garçons oder an die plissierten Gewänder von Issey Miyake. An monochrome Farben und an die Auflösung westlicher Vorstellungen, was schön und was hässlich ist. An Mädchen wie Saori Noguchi denkt man kaum. Obwohl gerade sie den Alltag Japans weit eher bestimmen als die vielen japanischen Designer, bei deren Namen westliche Modejünger auf die Knie gehen.

Yukiko Sugiura macht das mit Sicherheit nicht. Seit fünf Jahren beobachtet sie für Swarovski, den weltweit größten Kristallerzeuger aus dem Tiroler Wattens, jene Trends, die die Magazine und die Straßen Tokios bestimmen. "Tokio ist mindestens ein bis zwei Saisonen voraus", ist sie überzeugt: "Was hier jetzt populär ist, das wird in Paris oder London erst in einigen Saisonen zu sehen sein." An Sugiuras Hals hängt eine Pfeife aus Kristallen, vier funkelnde Armreifen schmücken ihr Handgelenk. Nimmt sie die Namen der großen japanischen Designer in den Mund, Yohii Yamamoto etwa oder Rei Kawakubo (Comme des Garçons), dann hält sich ihre Begeisterung in Grenzen. Ähnlich wie wenn in Europa jemand über die aktuellen Kreationen von Giorgio Armani oder Thierry Mugler spricht. Die Trends in Japan bestimmen andere Designer.

Dresscamp

Am selben Abend im International Forum. Es ist der zweite Tag der Japan Fashion Week, 38 Labels zeigen ihre kommenden Kollektionen. Namen kennt der westliche Besucher nur wenige, jene Designer, die in Paris zeigen, sind nicht vertreten. Auch Dresscamp, das Label des Designers Toshikazu Iwaya (32), ist im Westen kaum bekannt. Dafür aber in Japan. "Ein Ticket für Dresscamp", sagt Yukiko " ist ein bisschen so, wie wenn man in Paris eine Karte für Dior Homme hat."

Die Mode könnte allerdings kaum unterschiedlicher sein. Hot Pants, Minis, viel Pink und knalliges Gelb. Die (durch die Bank) westlichen Models tragen Goldsocken, an den engen Bermudas baumeln riesige Goldknöpfe, der Trench darüber ist quietschbunt. Kristalle schmücken beinahe jedes Kleidungsstück. Als wäre Gianni Versace aus dem Totenreich auferstanden und triebe jetzt als Vorstadtgigolo sein Unwesen. Über diese Assoziation kann Designer Iwaya am nächsten Tag nur lachen: "Jahrzehntelang haben wir unsere Körper versteckt, diese Zeit ist mittlerweile vorbei." Wir treffen ihn in seinem schicken Geschäft im Tokioter Stadtteil Aoyama, dem Designerviertel der Stadt. Gleich nebenan ist Pradas berühmter Flagshipstore von Herzog & de Meuron, etwas weiter entfernt das verwinkelte Geschäftsreich von Comme des Garçons.

Erotischstes Körperteil: Nacken

Iwayas Referenzdesigner sind die figurbetonenden italienischen Modemacher, die Antipoden der im Westen bekannten japanischen Designer. Schließlich enthüllen sie den Körper nicht, sondern verhüllen ihn. Das hat viel mit japanischen Traditionen zu tun.

Jahrhundertelang war der Kimono die kaum variierte japanische Einheitskleidung, bis auf den Nacken blieb der Körper darunter unsichtbar. (Weshalb der Nacken bis heute das erotischste Körperteil in der japanischen Kultur ist). Als Kawakubo, Yamamoto und Miyake Anfang der achtziger Jahre in der westlichen Modewelt auftauchten, war es die Übertragung japanischer Ästhetik auf westliche Kleidung, die zu einer Revolution in der Welt der Mode führten. Ihre assymetrische Kleidung, die ausgefeilten Wickeltechniken, die multifunktionale Tragweise und die speziellen Materialien waren im Westen neu. Und erregten ungeheure Aufmerksamkeit. Bis heute.

"Es ist toll, was die japanischen Designer damals gemacht haben", sagt Dresscamp-Designer Toshikazuwa Iwaya. "Uns von der jüngeren Generation interessiert das aber weniger." Über seiner Cargohose trägt Iwaya ein einfaches schwarzes T-Shirt, eine funkelnde Piaget-Uhr (eine Kollaboration mit Dresscamp) baumelt an seinem Handgelenk: Prêt-à-Porter als Streetwear getarnt. "Anders als die Generation vor uns sind wir heute gut vernetzt, wir kriegen Informationen aus allen Teilen der Welt." Konzeptionell denkt Iwaya überhaupt nicht, seine Mode, sagt er, "stehe für sich selbst."

Das kann auch Trendscout Yukiko Sugiura unterschreiben. "Für Modetheoretiker aus dem Westen ist das schwierig zu verstehen: Fashion ist in diesem Land Fashion. Sonst gar nichts. Eine Möglichkeit, seine Individualität zu unterstreichen." Beinahe jeder interessiert sich in Japan denn auch dafür - und gibt dafür viel Geld aus. Selbst in den langen Jahren der Rezession war die Kauflust der Japaner wesentlich höher als jene der westlichen Konsumenten, all die Louis Vuittons, Guccis, Ferragamos oder Chloés prägen das Straßenbild Tokios wie es im Westen Drogerie- oder Supermärkte tun.

Markenzeichen: Schweinsköpfe

Anderntags im Kaufhaus Omotesando, einem der ganz neuen Shoppingtempel. Hier trifft man auf die schicken Zwanzig- und Dreißigjährigen samt Designertaschen und noblem Gesichtsweiß, in Japan dem Ausweis für Noblesse. Gefärbte Haare und gebräunte Gesichter wie im Kaufhaus 109 gibt es dagegen nicht. Neben Dolce & Gabbana, Bottega Veneta oder Ann Demeulemeester haben Eijiro Nakatani und Masayoshi Tobita, die zwei Designer von e.m., einen Laden. Schmuckdesigner, die im Pariser Concept-Store Colette genauso wie im Palais Tokyo oder bei Houben in Antwerpen verkaufen. In Japan haben sie insgesamt vier eigene Läden, in über Hundert anderen sind sie mit ihren lustigen Silberkreationen vertreten. Ihr Markenzeichen: Schweinsköpfe.

"In Brooklyn haben wir vor Jahren ein Keramikschwein erstanden, im Handgepäck haben wir es nach Japan gebracht." Seitdem sind die beiden auf das Schwein gekommen. Beide lachen viel, besucht man sie in ihrem voll gestopften Atelier im Tokioter Wohnviertel Shirokane. Plastikfrüchte liegen neben ausgestopften Tieren, ein Himmelbett gibt es und einen eigenen Raum für die Fee Tinkerbell. Antworten wird man dagegen wenige erhalten. Warum und wieso, das sei doch nicht so wichtig, sind sie überzeugt. Hauptsache das Design gefällt.

Eine Haltung, auf die man in Japan des Öfteren trifft. Was Kleidung anbelangt, ist hier selbst der durchschnittliche Konsument sehr experimentell, Männer in Röcken oder Frauen im Hexenlook fallen im Straßenbild nicht weiter auf. "Das sind ganz normale Leute, die Mode mögen, nichts Besonderes", sagt Trendscout Yukiko Sugiura und weist dann auf ein Mädchen hin, das gerade vorbeikommt. Braune Ballerinas, ein plissierter und geraffter Lagenrock, taillierter Blazer, darunter ein goldenes, glitzerndes Sweat- und ein weißes T-Shirt. Schmale Krawatte und ein Reifen im Haar. Ein Mix- und Layer-Look auf Teufel komm raus. "Das ist edgy", sagt Yukiko Sugiura und fügt dann höflich lächelnd hinzu. "In zwei Saisonen werdet ihr das auch in Europa tragen." (Stephan Hilpold/Der Standard/Rondo/20/10/2006)