Greil Marcus: "Wo war Andy Warhol, als wir ihn brauchten?"

STANDARD: Welcher Künstler oder welches Werk der Popkultur hat Ihrer Meinung nach den Geist dieser Jahre – den Geist der Bush-Jahre – am besten auf den Punkt gebracht?

Marcus: Dieser Moment der Geschichte ist ein Strudel – und das herrschende Lebensgefühl ist, dass alles, was auch nur irgendeinen Wert hat, jederzeit in diesem Strudel verschwinden könnte, und dass starke Kräfte auch noch daran arbeiten, dieses Loch größer zu machen. Der Künstler, der für mich diese Gefährdung am besten zum Ausdruck bringt, ist Michael Haneke, in der Klavierlehrerin und in Caché. Keine denkende Person im Westen ist immun gegen die Sogwirkung des amerikanischen Strudels. Die Gefühle des Gefährdetseins, des Ekels, der Selbstzerstörung und der Wunsch nach Rache – die haben sich, neben vielen anderen Dingen, in Hanekes Werk vorgearbeitet.

STANDARD: Gut, aber ich nehme an, dass Sie sicher auch einige Amerikaner kennen, denen es gelingt, diese historische Phase blitzlichtartig zu erhellen?

Marcus: Da gibt es Philip Roths Roman aus dem Jahr 2004, The Plot Against America, wo der Faschist Charles Lindbergh 1940 die republikanische Präsidentschaftskandidatur gewinnt, Franklin Delano Roosevelt besiegt und sich daran macht, ein amerikanisches Naziregime auf die Beine zu stellen. Roth hatte ganz recht, als er sagte, dass das kein Buch über Bush oder über das gegenwärtige Amerika war. Es ist keine Allegorie, sondern eine Story eigenen Rechts. Aber: Dieser Roman wäre nie geschrieben worden, wenn Bush nicht Präsident gewesen wäre. Als die Leute dieses Buch gelesen haben, da ist ihnen viel schneller zu Bewusstsein gekommen, in welchem Land sie heute leben, als in welchem Land sie damals, nach einem Wahlsieg von Lindbergh, gelebt hätten. Ja, und dann denke ich auch an 24, die TV-Show auf dem rechten Sender Fox. Dick Cheney liebt sie, weil sie pro Folter ist. Cheney hat sogar eine Privatführung für die 24-Schauspieler durch das Weiße Haus veranstaltet.

Und in dieser Show wird wirklich jeder gefoltert. Die Agenten im US-Zentrum für Terrorabwehr werden ständig aus ihren Sesseln gezerrt und ständig gefoltert, weil sie ja illoyal oder Doppelagenten sein oder komisch ausschauen könnten. Dann stellt sich heraus, dass sie eh okay sind, man nimmt ihnen die Elektroden ab, und sie gehen wieder zurück an die Arbeit. Aber der wirkliche Kern der Show hat mit dem eigentlich nichts zu tun. Der Heldenpräsident, David Palmer, der erste schwarze Präsident, legt seine Rolle wie Bill Clinton an. Der neue Präsident ist eitel, verwirrt und dumm – oder stellt er sich nur so? Je mehr sich die Story entwickelt, desto mehr kommt der Zuseher drauf, dass er niemandem vertrauen kann. Die Regierung besteht ausschließlich aus Feiglingen und Dieben und Verrätern. Das Einzige, was wirklich noch vorhanden ist, das sind die Terroristen, das ist die Möglichkeit, dass Ausländer Anschläge planen und ausführen könnten, die zehn- oder vielleicht sogar hunderttausenden Amerikanern das Leben kosten könnten.

STANDARD: Was werfen denn Sie der Regierung Bush konkret als Verfehlungen vor?

Marcus: Ich glaube, dass diese Regierung nicht einmal besonders korrupt ist. Bush will einfach möglichst bequem leben, das heißt für ihn, dass er möglichst nie jemandem begegnen möchte, der sehr viel anders ist als er selbst. Aber das, was auf dem Spiel steht, ist keine Kleinigkeit.

Die Regierung ist durch eine Bande von Machern ersetzt worden, deren einziges Ziel es ist, die Demokratie in den USA zu zerstören und die Republik durch die Herrschaft einer sehr kleinen Gruppe von sehr reichen Leute zu ersetzen. Ich war immer der Ansicht, dass Bush 2003 in den Krieg gegangen ist, weil er die Kongresswahlen 2002 gewinnen wollte, das heißt, lange bevor die erste Bombe abgeworfen wurde, war ihm daran gelegen, die republikanischen Mehrheiten im Kongress zu halten, damit er die Steuern für die Reichen weiter kürzen und die finanzielle Struktur der Regierung zerstören konnte.

Der Irakkrieg ist eine reine Sideshow im Krieg, den wir hier in den USA haben. Die Frage, wie Kunst auf all das überhaupt noch reagieren kann, stellt sich nicht mehr. Kein Kunstwerk, kein Protestsong, kein Bild kann auf diesem Level funktionieren.

STANDARD: Wenn man in Europa über künstlerische Opposition gegen Bush spricht, würde den meisten Leuten Michael Moore einfallen (und vielleicht einigen auch die Dixie Chicks). Was halten Sie eigentlich von Moores Arbeit?

Marcus: Moore ist ein sehr geschickter Propagandist. Als solcher ist er unehrlich, wie jeder andere Propagandist auch. Wenn er in Fahrenheit 9/11 behauptet, dass die Bush-Familie für eine Milliarde Dollar gekauft wurde, ist das Schwachsinn. Und Moore fürchtet sich vor seinen eigenen Ideen: Im selben Film zeigt er Aufnahmen, wie Bush zwölf Minuten lang wie ein Plastiksessel in einem Schulzimmer sitzt, nachdem er gehört hat, dass schon das zweite Flugzeug ins World Trade Center geknallt war.

Moore zieht das so auf, dass wir das gleich anfangs wissen. Aber dann wollen wir es auch sehen. Der Zuschauer will diese ganzen zwölf qualvollen Minuten dort sitzen und jede inhumane, unverständliche und unerklärliche Sekunde dieser zwölf Minuten sehen, bis es uns vor Fassungslosigkeit das Hirn nach außen dreht. Aber Moore hat Angst, dass er das Publikum langweilen könnte. Und darum zeigt er uns ein bisschen dies und ein bisschen das und versucht uns einen Eindruck von der endlosen Zeit zu vermitteln, die Bush da tatenlos vertan hat. Ich hätte niemals gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber: Wo war eigentlich Andy Warhol, als wir ihn wirklich gebraucht haben?

STANDARD: Wie viel Raum gibt es denn in den USA für Leute, die sich in subtilerer, subversiverer Art über Politik oder Massenmedien artikulieren wollen? Jonathan Demmes Remake des „Manchurian Candidate“ war ja kein großer Erfolg.

Marcus: Klar, Demmes Film war kein Erfolg, weil er nicht sehr gut war, obwohl ich ihn mochte, in seiner Qualität als Remake von einem Film, den ich 30-mal gesehen habe. Aber als Angriff auf Bush und Company war er schwerfällig. Aber es gibt in den USA noch sehr, sehr viel Raum, um die politische Wirklichkeit kulturell umzuschreiben. Es gibt keine Zensur, keinen Bannfluch. Der Boykott gegen die Dixie Chicks war gut geplant und zweifellos vom Weißen Haus mitorganisiert, und er hat der Band bei ihren Fans geschadet. Aber in keinem Fall ist ihnen verboten worden, etwas Konkretes zu tun.

STANDARD: Bob Dylan hat sich auf seinem letzten Album einen Song über den Dammbruch gemacht, der auf den Hurrikan Katrina anspielt. Was halten Sie denn künstlerisch von „Modern Times“?

Marcus: Also: Working Man’s Blues #2, Nettie Moore, Ain’t Talkin: Das sind Songs, die über Jahre hinaus wachsen werden. Dass Dylan das Wort „Proletariat“ in einem Song verwenden kann und dass das klingt, als sänge er „Baby“, das bringt den ganzen Dylan auf den Punkt. Es gibt eine große Lust auf Rache in diesen Songs, Fantasien von Mord und Massenmord, die er in seinem sorgfältig konzipierten Gebrummel versteckt. Dylan schreibt nicht für die Ewigkeit, sondern es ist, als spräche er aus der Ewigkeit. Er ist ein Medium für die Toten, ihre Worte kommen aus seinem Mund, er lässt sie wie Rauch vor sich aufsteigen und bläst sie weg. Der Rest auf Modern Times ist Füllmaterial oder schlimmer. Nach Katrina ist Leevees Gonna Break nicht nur nicht gut genug, sondern eine Beleidigung.

STANDARD: Bob Dylan hat unlängst gesagt, er habe in den vergangenen zwanzig Jahren musikalisch nichts mehr gehört, was der Rede wert ist. Können Sie eigentlich diese Meinung teilen?

Marcus: Nein, ich habe jede Menge guten Stoff gehört. Zum Beispiel ein Album, das Time Out of Mind heißt. (Anm: Ist 1997 erschienen, stammt von Bob Dylan.) (Christoph Winder, DER STANDARD Printausgabe, 21./22.10.2006)