Eine Nachchristliche Gegenwelt im Zeichen der Katastrophe: Elfriede Jelinek. Unser Foto stammt von Karin Rocholl und ist dem schönen und empfehlenswerten Band "Dichterbilder" (€ 51,30, Reclam) entnommen.

Foto: aus dem erwähnten Band "Dichterbilder"
Um es vorweg zu sagen: Ich halte Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten für eines der bedeutendsten Prosawerke deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Es steht in meiner inneren Bibliothek neben Franz Kafkas Prozess, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, neben Wolfgang Koeppens Romantrilogie Tauben im Gras, Das Treibhaus, Der Tod in Rom, Arno Schmidts Zettels Traum und Alexander Kluges Chronik der Gefühle. Wollte man weiter ausgreifen, so müsste man wohl – hierauf hat 1996, bei Erscheinen des Romans, schon Sigrid Löffler hingewiesen – James Joyces Finnegans Wake nennen, ferner Juan Rulfos Pedro Paramo und Josè Lezama Limas Paradiso – Werke, in denen die Vermittlung von Mythos und Geschichte auf eine Weise gelingt, die den tradierten Formtraditionen der Literaturgeschichte die Sprengkraft einer originären literarischen Ästhetik hinzufügt, Energien eines Erzählens, mit denen sich unser Wahrnehmungsvermögen verändert und damit unser Verhältnis zum Lesen wie zum Leben. Und auch zu uns selbst.

Töten, um zu leben

Der Roman Die Kinder der Toten handelt von ungewöhnlichen Vorgängen, die man, je nach Geschmacks- und Rezeptionstemperament, als geheimnisvoll, schrecklich oder grauenvoll bezeichnen kann. Worum es hier geht und was hier geschieht, lässt sich in einem Satz Elfriede Jelineks zusammenfassen: "Die Toten wollen befreit sein, aber um ihr Leben wieder zurückzubekommen, müssen sie die Lebenden töten." Verschiedene Figuren mit unterschiedlichen Lebensläufen und Todesarten wollen sich, nach Art der Vampire, der Untoten aller Zeiten, auf Kosten der Lebenden von ihrer Nicht-Existenz befreien. Dies gelingt ihnen durch Formen des Austauschs zwischen Leben und Tod, durch Prozesse des Übergangs, der Übernahme lebendigen Terrains mittels zerstörerischer Energien aus dem Reich der Schatten, die es den Toten erlauben, die schwindenden Lebensimpulse von Verunglückten, Selbstmördern und Ermordeten in sich aufzunehmen, um sich aus ihnen zu nähren.

Die Stoffwechselprozesse, die so in Form des Leichenessens zur Geltung kommen, sind mithin zunächst einmal ganz wörtlich, in einem naturwissenschaftlichen, chemischen Sinn zu verstehen. Sie erschöpfen sich jedoch bei Jelinek nicht in ihrer biologischen oder physiologischen Bedeutung. Mit ihnen geht vielmehr ein ästhetisches Überschusspotenzial einher, das auf Geschichte verweist. Es tritt zutage als Stoffwechselprozess zwischen den Zeiten, als Bedrohung der Gegenwart durch eine ungewisse, wenn nicht dunkle Zukunft: "Die Verfallenen, ob tot oder lebendig, wissen bis zu diesem Augenblick nicht, daß ihre Zukunft bereits begonnen hat." Die Zukunft aber ist die Vergangenheit – und mit diesem Motiv entfaltet der Roman seinen boshaften und bedrohlichen schwarzen Humor: "Auf einmal, völlig zwecklos, ist die Vergangenheit wieder da, unmöglich, sie zu lieben."

Die historischen Dimensionen des Stoffwechselprozesses sind mit Problemkomplexen beladen, mit dem Verhältnis von Verantwortung und Schuld, mit den Verbrechen des Faschismus, dem Weltkrieg und dem Genozid an den Juden. "DER ORT IN POLEN", Auschwitz also, repräsentiert diesen Geschichtszusammenhang, das "Haar", offenbar eine Anspielung auf Paul Celans "Todesfuge", bildet das Leitsymbol, an dessen fortschreitender Entfaltung sich die historische Dimension des Romans zur Bedrohung der in ihm erzählten Gegenwart ablesen lässt.

De-Zentrierungsroman

Was sich auf diese Weise thematisch in Form von biologischen und stofflich in Form von historischen Austauschprozessen entwickelt, findet eine genaue Entsprechung in der Erzähltechnik des Romans. Deren Grundregel lautet: Perspektivenwechsel, Mehrdimensionalität, Reziprozität von Erzählverläufen. Jelineks Opus magnum ist ein De-Zentrierungsroman, und die Eigenart seiner Figuren besteht in deren De(kon)struktion. Sie besitzen keine Stimme, sondern sind Bestandteil fortwährend wechselnder Wahrnehmungsperspektiven. Sie besitzen keine Identität, sondern bestehen aus Übergängen. Ihre Psyche erschöpft sich in der Verwunderung über die Nichtfassbarkeit ihres jeweiligen Realitätsgrades. Dieser aber steht nicht fest, sondern unterliegt Irritationen, Schwankungen und Erschütterungen, einer kannibalistischen Schwerkraft, welche die Figuren verschlingt und austilgt. Ihr Wirklichkeitsverhältnis ist das der Kontingenz und Arbitrarität. Das, was sie sehen und erleben, wird von ihnen nicht bestimmt.

Es handelt sich bei diesen Figuren um "Menschen im Übergang", die sich vampiristisch von den Lebenden nähren. Sie heißen die "Unheimischen", die "Unverborgenen", die "Un-Wesentlichen", die "Schatten", die "Erscheinenden", die "Wiedergänger", die "Ungestalteten", die "Andere Seite" oder die "Unzugehörigen". Die Austauschbarkeit solcher Signifikanten spricht von der Verwechselbarkeit der Signifikate. Gemeinsam ist ihnen das Merkmal, "Fremde" zu sein, Teil einer Welt, die dem "Vergessen", "Verderben" und "Vergehen" anheim gefallen ist, Gegen-Welt einer Wirklichkeit des "Werdens", die sich ihrerseits im transitorischen Zustand der Vergänglichkeit befindet.

Man kann Elfriede Jelinek als eine Meisterin der Oberflächengestaltung bezeichnen. Sie arbeitet, so abgründig ihre Konstruktionen auch erscheinen mögen, nicht mit Tiefsinn, sondern sie schreibt Klartext. Wenn sich mit ihrer Schreibweise – dem de(kon)struktiven, bisweilen entlarvenden Habitus der Sprache, den Bildern des Todes und der Katastrophensymbolik, der filmischen Erzähltechnik und der dominanten, auktorialen Erzählperspektive – wenn sich mit dieser Sprachkunstform eine Tiefendimension verbindet, so liegt diese nicht im Verborgenen, sondern tritt mit ihr und in ihr zutage. Sie ist ihr eingeschrieben, so wie – buchstäblich – alle Stoffwechselprozesse dem physischen Körper aller Lebewesen eingeschrieben sind. Das heißt: Das komplexe sprachliche Gewebe des Romans führt an seiner Ober- und Außenfläche alle Essenz und Substanz mit sich, die sich erschließen lässt. Den späten Ludwig Wittgestein variierend könnte man sagen: "Es ist ja nichts verborgen, wir sehen ja den ganzen Roman."

Gegensätze

So steht die Banalität neben dem Tiefsinn, die Philosophie neben dem Kalauer, das Wortspiel neben der Apokalypse. Sprachbruchstücke und zerstückelte Diskursformationen fügen sich zwanglos zum Oberflächenmaterial einer Ästhetik der "Seichtheit" (Jelinek), der eine impassibilité Flaubert‘schen Zuschnitts entspringt: Schärfe und Präzision von Blick und Benennung sind Bedingung und Garanten der Unnachsichtigkeit, mit der hier der Phänomenologie des Daseins jegliche Dimension geschichtsphilosophischer Tiefendeutung ausgetrieben wird. Wenn Geschichte bei Jelinek noch eine Tiefendimension besitzt, so ist es einzig die der erzählerischen Konstruktion: die eines Raumes nämlich, in den alle Zeit mündet, das Reich der "Unsichtbaren", von dem das der Kabbala entlehnte Motto spricht, das Jelinek ihrem Roman vorangestellt hat: "Die Geister der Toten, die solang verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder begrüßen."

Von wir sind lockvögel baby! über Wolken. Heim. bis zu Lust hat Jelinek immer wieder anspielungsreiche Formen der Intertextualität erprobt, eine Gespräch mit großen Texten der Literaturgeschichte, das man auch als eine poetische Aneignung der kulturellen Tradition bezeichnen kann. Der Roman Die Kinder der Toten verweist (unter anderem) auf den ersten bedeutenden Text der abendländischen Epik, auf Homers Odyssee, deren 11. Gesang, die Hadesfahrt des Odysseus. In seiner Eingangsszene berichtet der Titelheld von den Blutopfern, die er den Seelen der Toten ausgespendet hat, um mit ihnen sprechen zu können. Allen voran die Seele des blinden Sehers Teiresias, der Odysseus die Zukunft weissagt, danach seine Mutter, welche die Trennung von ihrem Sohn beklagt, nicht zuletzt Achill, der strahlende Held, jetzt Fürst in der Unterwelt, der lieber der letzte Ackerknecht unter den Lebenden wäre. Das Blutopfer ermöglicht den Toten das Gespräch mit Odysseus, doch scharf weist sein Schwert sie in ihre Schranken. Es ist eine vor-christliche Welt, ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne Heil.

Jelinek bietet eine Art Gegenmodell zu Homer, eine nach-christliche Welt des Unheils. Sie entwirft ein Kraftfeld der Vernichtung, dessen Antriebsenergie die von den Menschen geschändete Natur bildet. Die Elemente der Natur sind nur mehr Faktoren der Zerstörung, Allegorien des Untergangs, die der Naturzerstörung entspringen. Die Welt ist aus den Fugen – historisch ablesbar am Phänomen des Holocaust, ökologisch fassbar an den Implosionen der Natur –, die Umwertung aller Werte demzufolge nicht eine logische, sondern die unausweichliche Konsequenz dieser Einsicht. Das Wasser, das Leben spendende Element, wird zur reißenden Sintflut, die Erde, die Heimstatt des Menschen, stürzt buchstäblich über ihm zusammen. "DIE MURE. DIE FURIE" heißt es am Ende mit deutlicher Anspielung auf die "Furie des Verschwindens" in Hegels Phänomenologie des Geistes.

Wirkungen der Geschichte

Die von Hegel gezogenen Grenzen von Freiheit und Handeln markieren philosophisch, was Jelinek poetisch entwirft: den Umschlag eines schrankenlos "freien" menschlichen Handelns in die absolute Negativität seiner katastrophischen Folgen. Hegel spricht von Geschichte, Jelinek zeigt auf deren Wirkungen. Anders als bei einem Denken in der Tradition Hegels handelt es sich bei Jelineks Romanwelt nicht um eine verdeckte Fortschreibung von Geschichtsphilosophie, also auch nicht um eine literarische Form "negativer Dialektik". Sondern es ist eine Art negativer Phänomenologie, die den Gesamtzusammenhang des Romans wie die vielgestaltigen Wirbel seiner erzählerischen Oberfläche grundiert und ihm totalisierend die Entwicklungsrichtung weist.

Die Banalität und Zufälligkeit des Todes – leitmotivisch immer wieder aufgenommen, ausgebreitet auf 666 Seiten und am Ende in den lakonischen Berichtstil einer Zeitungsmeldung mündend – bildet insoweit nur das pars pro toto der Menschheitsentwicklung: banal, repetitiv und ausweglos. Geschichte und Natur verschränken sich, die Wiederholung wird zur Grundfigur allen Geschehens, die Vergänglichkeit ist dessen Signatur, und die Basiserkenntnis dieses tödlichen Kreislaufs lautet: "Aber für jedes Werden ist die Ursache, daß es dem Verderben anheimfällt. Der Gott der Zeit."

Jelineks abgründiger Kosmos stellt, so gesehen, nichts Geringeres als eine Naturgeschichte der Menschheit dar, wahrgenommen unter dem Neigungswinkel unserer Gegenwart. Eine nach-christliche Gegenwelt, die im Zeichen der Katastrophe steht. Eine Signatur unserer Zeit – man kann sie auch als Warntext verstehen. (Ralf Schnell/ DER STANDARD Printausgabe, 21./22.10.2006)