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Foto: apa/dpa/Gentsch
Im Interesse von Pisa und der großen Koalition: Kann denn die Kinder keiner lehren, welches System für sie das Beste ist?

Eine Verbesserung des österreichischen Schulsystems ist sicher notwendig, warum von Gesamtschul-Befürwortern aber so getan wird, als ob dies ausschließlich durch Realisierung einer gemeinsamen Schule der 6-14-Jährigen möglich wäre, kann ich nicht nachvollziehen.

Als AHS-Lehrer mit vieljähriger Praxis möchte ich den Argumenten des Erziehungswissenschaftlers Karl Heinz Gruber ("Rotes Tuch Gesamtschule?", der Standard, 18. 10.) einiges entgegenhalten:

1. Kein Praktiker wird sich gegen die "Individualisierung des Unterrichts" wenden - an den AHS würden wir uns schon lange mehr Mittel zur individuellen Förderung der weniger Begabten und ebenso der Hochbegabten wünschen (auch wenn Letzteres manchen suspekt erscheinen mag - klingt zu sehr nach "Elitenbildung"!). Und auch an den Hauptschulen wäre mit individueller Förderung zweifellos mehr erreichbar als mit dem weit gehend starren Leistungsgruppen-System. Die "begabungsgerechte Wahl von Leistungsgruppen" nach schwedischem Muster ließe sich allerdings auch im gegliederten Schulsystem realisieren - vorausgesetzt man stellt dafür entsprechende Ressourcen zur Verfügung.

In Finnland etwa gibt es an jeder Schule eigene Stützlehrer/innen, eigene psychologisch geschulte Betreuungslehrer/innen, die sich nicht nur um Schwache, sondern auch um temporär unter Druck geratene Schüler/innen kümmern. Wer aus solchem Personalreichtum schöpfen kann, hat es leicht, gute Ergebnisse zu erzielen. Würden im gegliederten Schulsystem ähnliche Kapazitäten zur Binnengliederung und zur Schülerförderung eingesetzt, würden sich auch hier die Ergebnisse sprunghaft verbessern, dazu bedarf es keines schulpolitischen "Umsturzes".

2. Das Argument, wonach Hauptschüler in ihren Bildungschancen benachteiligt wären, ist mir zu plakativ. Die Praxis zeigt, dass mehr als die Hälfte aller Maturanten an AHS und BHS die Unterstufe an einer Hauptschule besucht haben (so negativ kann also die Selektion dort nicht sein!). Sie zeigt aber auch, dass viele von ihnen auch in der ersten Leistungsgruppe der HS zu wenig gefordert/gefördert werden, sodass sie beim Übertritt in eine AHS vorübergehend Probleme haben, mit den Schülern der AHS-Unterstufe mitzukommen. Daraus ist abzuleiten, dass die Gliederung in Leistungsgruppen selbst bei Lehrplanidentität an AHS und HS nicht denselben Leistungsstand erbringt. Wie aber kommt man dann zu der Annahme, dass eine gemeinsame Schule bei ähnlichen Ressourcen die Begabungen mehr zu fördern imstande sein sollte als das gegliederte System?

3. Kein Gesamtschul-Befürworter konnte bisher ausreichend erklären, warum etwa die Pisa-Ergebnisse in den deutschen Bundesländern mit gegliedertem Schulsystem um so viel besser sind als in Ländern, die auf gesamtschulähnliche Systeme setzen. Ist es wirklich glaubhaft, die Defizite der "schwächeren" Länder nur der Existenz von Gymnasien anzulasten? Sind Effizienz des Ressourceneinsatzes, oder Motivation und Ansehens der Lehrenden wirklich nebensächlich? Bemerkung am Rande: Nirgendwo in Deutschland ist die soziale Herkunft für den Schulerfolg weniger entscheidend als in Bayern, dem Land mit dem am stärksten gegliederten System.

4. Vielfach gibt man sich der Illusion hin, dass eine Gesamtschule eine flächendeckend gleichwertige Ausbildung der österreichischen Schüler/innen bis zum 14. Lebensjahr zur Folge haben müsste. Fragt man in Finnland nach, erhält man die Auskunft, dass es vor allem in den Städten zwischen den Schulen große Konkurrenz und daher auch große Unterschiede gibt. Manche Schulen werden als anspruchsvoller, als den österreichischen Gymnasien durchaus vergleichbar beschrieben, andere können nicht so viel fordern und erreichen. Also beschränkt man sich offenbar auch im gelobten Land der Gesamtschule nicht nur auf die innere Differenzierung.

5. Ein radikaler Wechsel in unserem Schulsystem hätte nicht nur immense Kosten zur Folge, er würde auch mit viel Verunsicherung bei Eltern und mit Existenzangst und Frustration bei vielen Lehrenden - insbesondere der gymnasialen Unterstufe - einhergehen. Will man das?

6. Und noch ein Problem: Wie wollen denn die GS-Befürworter erreichen, dass nach Einführung der Gesamtschule etwa in Wien Eltern ihre Kinder in die GS, die einer gymnasialen Oberstufe angeschlossen ist, schicken statt in die nahe gelegene ehemalige Hauptschule? Soll es strikte Schulsprengel geben, also echten Zwang, eine bestimmte Schule zu besuchen?

Ich wünsche mir jedenfalls, dass die Schulpolitiker einer künftigen Koalition verantwortungsbewusst mit unserem Schulwesen umgehen und nicht nur ideologisch motivierte Ziele im Auge haben. Man sollte nicht so tun, als könnte man Jahrzehnte der Entwicklung unseres Schulsystems "mir nix, dir nix" streichen und bei Stunde null anfangen. Verantwortungsbewusst handeln hieße: die bestehende Struktur systematisch weiterzuentwickeln und sie nicht durch einen völligen Umsturz zu zerstören. (DER STANDARD Printausgabe, 24. Oktober 2006)