Ein mikroskopisch kleines Kalk-Körnchen kann die Welt um einen
Menschen herum in Rotation versetzen.
Redaktion
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München - Die drei Neurologen und Hirnforscher
Thomas Brandt, Direktor der Neurologischen Klinik am
Klinikum Großhadern
der Universität München, Johannes
Dichgans, Tübingen, und Hans-Joachim Freund, Düsseldorf, haben sich mit
der Kooperation zwischen Seh- und Gleichgewichtssystem und Gehirn
befasst. Ein mikroskopisch kleines, abgesprengtes Kalk-Körnchen, das den
Bogengang des Gleichgewichtsorgans verstopft, kann die Welt um einen
Menschen herum in Rotation versetzen: Ihm wird schwindelig, seine Augen
beginnen zu zittern. Der so genannte anfallsartige Lagerungsschwindel ist die
häufigste Form des von Ärzten "Vertigo" genannten breiten Spektrums
unterschiedlicher Schwindelformen.
Auslöser ist meist eine Lageveränderung des Kopfes, etwa beim Aufstehen,
Hinlegen oder Umdrehen. Zwar verschwindet diese Störung in vielen Fällen
von alleine wieder, doch immerhin 50 Prozent der Betroffenen leiden darunter
länger als einen Monat, zehn Prozent sogar mindestens ein halbes Jahr.
Dabei können Ärzte den Patienten in den meisten Fällen durch ein simples
Lagerungsmanöver helfen, bei dem das Körnchen aus dem Bogengang wieder
herausgeschleudert wird. Ein solches Manöver hat Thomas Brandt von der
Neurologischen Klinik am Klinikum Großhadern schon in den achtziger Jahren
entwickelt.
Das Gleichgewichtssystem des Menschen stellt sicher, dass wir die
Körperbalance halten, uns im Raum orientieren und Eigenbewegungen
wahrnehmen können. "Schwindel" ist kein eigenständiges Krankheitsbild,
sondern ein Symptom. Es zeigt an, dass an irgendeiner Stelle bei der
Weiterleitung und Verarbeitung von Signalen aus dem Gleichgewichtsorgan
eine Störung vorliegt - angefangen vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr
selbst, über die weiterleitenden Nervenbahnen, bis hin zu verschiedenen
Gehirnregionen, wo diese Signale verarbeitet werden. Darum können etwa
Störungen und Infektionen des Innenohres Nervenentzündungen, Tumore
und Schlaganfälle Vertigo verursachen. Aber auch bei psychosomatischen
Erkrankungen, etwa Panikattacken und Phobien, klagen Patienten oft über
Schwindel.
Die "hintere Insel"
Thomas Brandt und seine Mitarbeiter untersuchten mit bildgebenden
Verfahren (PET und fMRT) Patienten, bei denen ein Schlaganfall bestimmte
Hirnregionen geschädigt hatte, Patienten mit beidseitigen Störungen des
Gleichgewichtsorgans und gesunde Personen. Ergebnis: Eine bestimmte
Region des Großhirns verarbeitet Signale, die vom Gleichgewichtsorgan
kommen - allerdings nicht nur diese. Es ist "multisensorisch" ausgelegt, d.h.
es verarbeitet auch bestimmte visuelle Sinneseindrücke. Das Areal befindet
sich in der "hinteren Insel", die auf der Hirnoberfläche nicht sichtbar ist, da
sie in einer Furche liegt. Die Region ist darüber hinaus mit dem Sehzentrum
der Großhirnrinde, dem "visuellen Kortex", vernetzt.
Bei ihren Forschungsarbeiten entdeckten die Münchener Neurologen einen
neuen Mechanismus, wie Seh- und Gleichgewichtssystem bei der
Wahrnehmung von Eigenbewegungen zusammenarbeiten. Die Systeme
hemmen sich gegenseitig, abhängig davon, ob sich der Mensch selbst
bewegt, oder ob die Bewegung bei gleichbleibender Geschwindigkeit, etwa im
Auto oder im Zug, stattfindet. Bewegt sich der Mensch selbst vorwärts,
dominiert der Input des Gleichgewichtsorgans. Erfolgt die Bewegung passiv
mit gleichförmiger Geschwindigkeit, dominiert der visuelle Input.
"So werden Störreize und Fehlwahrnehmungen vermieden", erklärt Brandt.
Solche Untersuchungen liefern jedoch nicht nur faszinierende Erkenntnisse
über ein komplexes Sinnessystem. "Mit ihrer Hilfe", so Brandt, "wollen wir
Störungsmuster identifizieren, die bei der Diagnostik von Schlaganfällen
hilfreich sind und möglicherweise auch neue Therapieoptionen für die
Rehabilitation eröffnen." (pte)