Prächtige Fassaden und französische Mansarden öffnen sich
hinter den Laubkronen-Vorhängen der Platanen. Elegant geschwungene
Balkone krallen sich an abweisenden Villen fest, wie geschaffen für den
Auftritt all der stolzen Leute, die den Evita-Faktor in den Genen haben - und sich
neuerdings zum Rendezvous Blumen aus rostfreiem Metall schenken.
Die High-Tech-Tulpe
Zwanzig Meter misst nämlich die Skulptur "Floralis
Genérica", ein beliebter Treffpunkt an der nahen Plaza Naciones
Unidas. Buenos Aires' neue High-Tech-Tulpe öffnet ihre sechs
Blütenblätter mit dem ersten Sonnenstrahl, um das metallische
Köpfchen erst zur Dämmerung wieder zu schließen. Ein
typisches Großstadt-Gewächs der jungen, vor Lebensfreude
strotzenden Stadt - und längst nicht das einzige.
Das beweist ja allein schon der Spaziergang über die neue Brücke Puente de la Mujer, die wie eine Harfe aussieht und am gegenüberliegenden Ufer des alten Hafenkanals auf Südamerikas heißestes Design-Hotel neugierig macht. Ziegelroter Lagerhallen-Charme, buntes böhmisches Glas und Stühle mit versilberten Schwanenhälsen sorgen im hier gelegenen "Faena Hotel" für jenes Maß an dekadentem Luxus, der Trendnasen auf Dauer bei der Türklinke hält.
Märchenhaft wie die Einhörner, die als Trophäen der Philippe
Starck'schen Fantasie aus den Hotelbistro-Wänden ragen, war auch der
Aufstieg des abgetakelten Hafens zum neuen Ausgehviertel. Puerto Madero
heißt diese Gegend der alten Docks. Dekorativ rosten da Lastenkräne
neben stylishen Cafés; Schornsteine und schicke Restaurants machen aus
dem erst 1991 eingemeindeten Distrikt ein angesagtes Szene-Biotop.
Avenida 9 de Julio
Mehr Leben als Lifestyle verströmen trotzdem andere Ecken. Buenos Aires
Porteños - so nennen sich die Bewohner selbst - schlendern dazu lieber
die breiteste Straße der Welt hinauf, die Avenida 9 de Julio, für die
einst eine ganze Häuserzeile umgelegt werden musste. Ganz nahe am
Pulsschlag Amerikas dröhnt plötzlich der Verkehr: sechszehn Spuren,
unterbrochen lediglich von einem Streifen Rasengrün.
Wie Schwimmer rudern die Zeitungsjungen von dieser langen, schmalen Insel aus durch die Blechlawine, treiben im Rhythmus der Ampelphasen auf die Klippe des gewaltigen Obelisco zu. 67 Meter ragt Buenos Aires' Wahrzeichen auf halber Höhe der 9 de Julio auf, eine steinerne Achse, um die sich der Verkehr und manchmal auch die Leidenschaften ganz Argentiniens drehen.
Der triumphale Rausch der Fußball-Fans, der kollektive Zorn der
politischen Demonstranten - alles Fälle für den großen
weißen Obelisken. Rund um ihn wogt, tanzt, weint, träumt: Gran
Buenos Aires, die steinernen Pampas, mit 48 Barrios für 13 Millionen
Menschen.
Das Kuschelmonster
Callao. Agüerdo. Plaza Italia. Palermo. Nur ein paar Metrostationen weiter
östlich der großen Steinnadel gibt sich der Moloch als
Kuschelmonster. Lauschige Parks mit Bänkchen für
Gitarrengeklimpere, einstöckige Häuschen mit Spitzengardinen und
Nachbarschaftstratsch vorm Fliederbusch lassen hier, in Palermo Viejo, vages
Kleinstadt-Gefühl aufkommen. Aber auch eine klare Ahnung von Buenos
Aires' junger Avantgarde - ein lauschiger Abend in den Szene-Cafés der
kreisrunden Plaza Cortázar überzeugt den Besucher. Klar,
kühle Neon-Bars und überdrehte Fashionistas gibt es auch hier - und
das nicht zu knapp.
Im hier gelegenen "Salon Canning" landete Madonna, als es ihr
privates Tangofieber auszukurieren galt. Die Stars der lokalen Modeszene
lieferten übrigens das Outfit dazu. Palermo ist voll von kleinen Boutiquen
und individuellen Handschriften, das Modediktat der internationalen Labels hat
hier Sendepause. Beispiel Boutique "A. Y. Not Dead". Wer in den
rosaroten Modekeller abtaucht, kann sich der einen oder anderen
Überraschung jedenfalls sicher sein - asymmetrische Mikro-Minis und
Samt-Shirts im Zebra-Look inklusive.
Im Taxi mit dem König des Tango
Taxifahrt mit Juanito und Carlos Gardel nach San Telmo, dem altgedienten
Herzen der Stadt. Juanito sitzt hinter dem Lenkrad und flucht. Über den
Baustellen-Wahnsinn, über den Trainer der Boca Juniors, über den
beschissenen Pesokurs sowieso. Carlos Gardel kann all das kein bisschen
stören. Er sitzt bloß im Radio und schwebt ansonsten im Äther
und singt einfach nur dazu. Er besänftigt Juanito im Stau, er verzaubert die
öden Betonwürfel, die auch in Buenos Aires von Hochstraßen-
Flyovers umschnürt werden, so wie billige Pakete mit
übergroßen Geschenkschleifen. Er lässt den verschwitzten
Taxifahrer stöhnend und nach dem Song "Mi Buenos Aires
Querido" sonderbar gesoftet in den Vordersitz sinken, schlaff wie ein
blutiges Steak.
Mit normalen Liedern wäre das kaum möglich. Aber Carlos Gardel, der unumstrittene König des Tango, der Mann, dem 1935 verzweifelte Fans in den Tod nachfolgten, singt keine normalen Lieder. Eher atmet er mit den Stimmbändern dunkel aus, verleiht dem Form, was Buenos Aires im Stillen bewegt. Die Trauer der schneidigen Porteños - sie wird zu schwarzem Honig, der durch Transistoren und Ballsäle kriecht. Die Sehnsucht nach der großen Liebe verwandelt sich, durch seine Stimmbänder verpackt, in die verbrauchte Leere, die Buenos Aires' Milongas-Tanzlokale ab vier Uhr morgens überzieht.
Ein ganzer Sender spielt Carlos Gardel, durchgehend seit 1991, pausenlos. Man
könnte sagen, er gibt der Stadt eine Stimme, die alles umfasst. Evita
Perón. Den Tango. Che Guevara. Die Melancholie. Ja, selbst die Koksnase
Maradona und die treuvolle Größe, ihm trotzdem einen Sitz im
Pantheon der Göttlichen zu reservieren. Plötzlich scheint alles aus
einem Guss.
Alles Tango in San Telmo
Juanito fuchtelt musisch mit den Händen. Draußen werden die
Straßen schmäler, die Häuser verspielter und älter, die
Laternen schöner, ihr Licht weicher. San Telmo erkennt man nämlich
auf den ersten Blick, Buenos Aires' Geschichte atmet hier aus allen Poren.
Cafés wie das patinierte Café Dorrego an der gleichnamigen Plaza wären auch in spanischen Altstädten eine Rarität: die schwarz- weiß gekachelten Böden mit Zigarettenstummeln übersät, Tische und Tresen tausendfach mit den Namen anonymer Bohemians vollgeritzt. Ein Echo vom melancholischen Geburtsgeschrei der Tangomode, die Europa erstmals in den Zwanzigern in ihren Bann zog, hängt in San Telmos stimmungsvollstem Café noch heute in der Luft.
Mit Hut und Brusttuch tauchen vor dessen großen Scheiben denn auch die Straßensänger auf, begleitet von den obligaten Akkordeon-Virtuosen, den Bandoneonistas. Und der lokale Flohmarkt gilt als Vintage-Fundgrube par excellence. Zweihundert Antikläden und Galerien konzentrieren sich in dem kleinen Viertel. Sättel mit solidem Silberbeschlag, Jesuleins mit rissig gewordener Haut, aber dafür mit offiziellem Alterszertifikat, blank getanzte Tangoschuhe, Akkordeons mit Elfenbeinknöpfen, Madonnen mit barocker Kleidermode - sie alle träumen in San Telmos Vitrinen vor sich hin.