In den äußersten Süden Äthiopiens verirren sich sich kaum Fremde. Die Menschen dort leben unter erbarmungswürdigen Bedingungen. Unter den wenigen Organisationen, die sich um sie kümmern, ist die österreichische Entwicklungszusammenarbeit. Ein Besuch in Filtu.

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Murithi Gautamo klappt seinen Laptop auf. Der Beamer surrt leise. Routiniert wirft Murithi Powerpoint-Seiten auf eine gekalkte Wand. Er spricht über "killer deseases" und über mangelernährte Bevölkerung. Er erzählt von Nomaden, denen die Gesundheit ihrer Tiere wichtiger ist als die eigene. Er berichtet von Versorgungspunkten, die hundert Kilometer entfernt im Busch liegen. Die ersten Käfer krabbeln über den gefliesten Boden. Später wird die stockfinstere somalische Nacht Myriaden von Mücken, Gelsen, Flatterern in das einzige beleuchtete Zimmer des Krankenhauses von Filtu schicken. Ein Krankenhaus, das seit fünf Jahren neu und proper gebaut dasteht, aber nicht in Betrieb ist.

Filtu. Somali-Region. Äthiopien. Im Ranking der gottverlassensten Orte unter dieser Sonne hat Filtu einen Stockerlplatz. Als die Italiener in den 1930er-Jahren die Straßen von Mogadischu nach Addis durch diese Gegend bauten, hätten sie an diesem Ort "finito" gesagt, heißt es. Aus, Schluss, Ende - Filtu. Seither nennen die Somalis diesen Ort am Ende der Welt so.

20.000 Menschen leben hier in Reisighütten. Im Bezirk sind es an die 150.000. Staat und Regionalregierung sind mit ein paar Polizisten präsent und dem eingezäunten Spitalkomplex. Ein Hausverwalter täuscht darin so etwas wie Betrieb vor. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung übernehmen eine italienische NGO (das Comitato Collaborazione Medica, CCM) und die österreichische Entwicklungszusammenarbeit. Murithi Gautamo (42) ist der lokale Koordinator.

Die Misere, die der Arzt aus Kenia mit seinem Laptop ausbreitet, spricht für sich selbst: Die Menschen laborieren an Malaria, Aids, TBC, Parasiten, Blutarmut, Diarrhöe. Die Frauen leiden noch dazu an der in dieser Gegend praktizierten grausamsten Form der Genitalverstümmelung, die jede Geburt zu einem Kampf auf Leben und Tod werden lässt.

Filtu ist die Region mit dem geringsten Zugang zur Gesundheitsversorgung in ganz Äthiopien. Die Nomaden wandern mit ihren Kamelen, Schafen und Ziegen über hunderte von Quadratkilometern, um der Wüste neue Weideflächen abzuringen. Selbst wenn sie wollten, könnten sie Filtu nicht für medizinische Versorgung erreichen.

CCM setzt deswegen auf ein System von Gesundheitsvorposten im Busch, die Teams aus Filtu in regelmäßigen Abständen ansteuern und an denen sich die vazierenden Somalis behandeln lassen können. Ein zweiter Ansatz ist das "One Medicine Program", eine Kombination aus Human- und Veterinärmedizin. "Um an die Menschen heranzukommen, müssen wir zuerst die Tiere behandeln", erklärt Murithi. Ein Tierleben zählt in der somalischen Wüste mehr als ein Menschenleben.

Hydimtu ist ein solcher Gesundheitsvorposten. Von Filtu hierher brauchen die Landcruiser über Schotterpisten und durch Schlammlöcher eine gute halbe Stunde. Vor allem Frauen hören den CCM-Leuten zu, wenn die über Möglichkeiten zur Verbesserung der Hygienebedingungen sprechen. Und sie sind es auch, die ihre Kinder zum impfen bringen. "Es ist sehr gut, dass sie uns besuchen kommen", sagen Ibado Mohammed und Habiba Abdiisaac und senken ihren Blick zu Boden. Frauen haben in dieser archaischen Gegend wenig zu reden. Aber wer in ihre Gesichter sieht, merkt, dass es keine leeren Floskeln sind. Kommt CCM nicht nach Hydimtu, kommt niemand nach Hydimtu.

"Die Regierung kümmert sich überhaupt nicht um uns. Bei den letzten Wahlen haben wir sie gewählt, das nächste Mal wird die Opposition eine bessere Möglichkeit für uns sein", schimpft der Dorfälteste Shukri Salah.

In der 4000-Seelen-Gemeinde spiegelt sich vieles, was Äthiopien hemmt. Die Armut ist beschämend. Die natürlichen Ressourcen sind begrenzt. Die Überbevölkerung - die Frauen in Hydimtu haben durchschnittlich sieben Kinder - egalisiert jeden wirtschaftlichen Erfolg. In den vergangenen 30 Jahren ist die äthiopische Wirtschaft pro Jahr durchschnittlich um 2,5 Prozent gewachsen, die Be-völkerung um etwa drei Prozent. Um zwei Millionen Menschen mehr, zwei Millionen Münder mehr, sind in Äthiopien jedes Jahr zu füttern.

Die bis vor anderthalb Jahren auch verhältnismäßig demokratisch gesinnte Regierung in Addis Abeba hat in den vergangenen zehn Jahren ihr Bestes versucht, um die Lage in den Griff zu bekommen und die Wirtschaft auf eine breitere Basis als die agrarische zu stellen. Das Bevölkerungswachstum hat den Effekt relativiert, darüber kann auch das boomende Addis nicht hinwegtäuschen.

Und selbst das wenige Erreichte drohen neue Konflikte zu zerstören. In Dolo, 230 Kilometer südwestlich von Filtu, ist Somalia nur einen Steinwurf von Äthiopien entfernt. Dort rüsten Islamisten für den Heiligen Krieg gegen Äthiopien, heißt es. Auch dort betreiben die Österreicher und CCM ein Gesundheitszentrum. Murithi Gautamo pendelt wöchentlich zwischen Dolo und Filtu. Was passiert, wenn es Krieg gibt? "Wir müssen es dennoch schaffen. Inschallah", sagt er. Inschallah, so Allah will. (Christoph Prantner/DER STANDARD, Printausgabe, 2.11.2006)