Frederick Mayer

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Vor einigen Tagen las man in den Zeitungen folgende Meldungen: In den USA hat die Kommentatorin Adriana Huffington George W. Bush, wohl wegen der Resultate seines Krieges gegen den Terror, einen "Ritter von der traurigen Gestalt" genannt. In Österreich machte der Pflegeforscher Erwin Böhm mit seiner harten Kritik an der Pflege in Österreichs Altenheimen (und dem drastisch formulierten Vergleich, der Pflegezuschuss sei "moderne Euthanasie") Schlagzeilen.

Was haben diese beiden Meldungen mit Frederick Mayer zu tun, der im heurigen Juni 85-jährig in Wien verstorben ist? Viel: Denn der lange Zeit in den USA lebende Pazifist hat sich zum einen zeitlebens gegen Gewalt und Krieg engagiert, zum anderen wegweisend über die Probleme des Alterns in der modernen Gesellschaft geschrieben. Die Kritik von Frederick Mayer an Bush und Konsorten ist zwar weniger amüsant als die von Michael Moore, aber dafür gründlicher und vernichtender. Und seine Gedanken zum würdevollen Umgang mit alten Menschen sind radikaler und stellen für die Politik eine weit größere Herausforderung dar als die Konzepte und die Kritik von Böhm.

Mayer, der als Kreativitätsexperte und Erziehungswissenschafter weltweit Anerkennung fand, propagiert nichts weniger als die Erziehung von Menschen, die ihren unbedingten Wert auch abseits der herrschenden materialistischen und martialischen Verwertungslogiken erkennen. Er entwickelte das Konzept der schöpferischen Erweiterung, eine Gegenstrategie zu jenen Mechanismen der Einengung, die schon im Kindesalter greifen. Anstelle konventioneller Erziehung schlug er ein dynamisches, auf Dialog und Ermutigung basierendes Modell vor, welches neben sozialen Werten das schöpferische Potenzial und die Interessen eines Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Gegen Quantifizierungsmaximierung wendet er sich auch in der Wissenschaft. In der Psychologie setzt er eher auf tiefere Einsicht durch Literatur: "In gewisser Weise lernen wir von Dostojewski mehr als von Freud, und wir gewinnen größere Einsichten von Camus als von Skinner." Mit anderen Worten: Mayer steht so weit außerhalb des Mainstreams der Moderne wie Franz von Assisi seinerzeit außerhalb der Kirche. Und auch das Leben dieses radikalen Querdenkers ist so interessant und relevant wie seine Ansichten.

Frederick Mayer, 1921 in Frankfurt geboren, wächst als Sohn eines Bankdirektors in gutbürgerlichem Milieu auf. 1936 kommt der erste entscheidende Bruch: Um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, geht er - getrennt von seiner Familie, die sich erst im letzten Augenblick retten kann - mittellos in die USA. Die folgenden Jahre in einem Waisenhaus prägen sein Leben. Er erlebt Hunger, den Sadismus älterer Jugendlicher und einen Angst fördernden Schulunterricht. Trost bieten ihm allein die Bücher der Bibliothek.

Glücklicherweise erkennt eine Rhetoriklehrerin sein Talent, und dank eines Stipendiums kann Mayer, dem man zuvor eine Zukunft als Straßenkehrer prophezeit hatte, ein Studium absolvieren. Er schließt es summa cum laude ab. Gelehrter im Elfenbeinturm wird er trotzdem nicht: Vor der akademischen Karriere arbeitet er zunächst in einem Ferienlager für kriminelle Jugendliche. Und lernt dabei, wie wichtig neben Büchern praktische Bewährungen und Erfahrungen sind.

Von 1944 bis 1966 lehrt Mayer als Professor für Philosophie, Pädagogik und Humanwissenschaften an kalifornischen Universitäten. Er arbeitet zudem als Vizedirektor einer Stiftung, die Menschen in schweren Lebenskrisen unterstützt, und als Berater für einen Thinktank.

---> Publikationen

Anfang der Fünfzigerjahre beginnt er zu publizieren, über die Geschichte der Philosophie und der Erziehung, das amerikanische Denken und die Zukunft der Universitäten. Mit A History of the Educational Thought gelingt ihm ein Bestseller. Es wird Pflichtlehrbuch an amerikanischen Universitäten und beeinflusst besonders in der brasilianischen Übersetzung - mit Beiträgen von Anna Freud und Jean Piaget - die moderne Pädagogik wesentlich.

Zu Mayers Freundeskreis zählen in diesen Jahren Albert Schweitzer, Aldous Huxley und Martin Luther King. Die zunehmende Militarisierung der USA und das traumatische Ende der Ära Kennedy im Jahr 1968 - am 4 .4. wird Martin Luther King ermordet, am 6 .6. Robert Kennedy - führen zum zweiten großen Bruch im Leben Frederick Mayers. Er emigriert zurück nach Europa und lässt sich in Wien nieder. Hier wirkt er für die Religionspädagogische Akademie der Erzdiözese Wien und als Berater und Ideengeber bei Reformvorhaben der Ära Kreisky. Er arbeitet zudem an internationalen Forschungsprojekten und wird Mitglied des Austrian Chapter des Club of Rome. 1982 erhält er das Goldene Ehrenzeichen des Landes Wien - und vom Trend den Ehrentitel "Kreativitätspapst". Bis zu seinem Tod am 26. Juni 2006 publiziert Frederick Mayer, auf rund 60 Bücher wächst die Liste - wobei er zuletzt das Wesentliche aus seinen früheren wissenschaftlichen Arbeiten im Stil populärer Ratgeber zusammenfasst. Güte als Lebensweise heißt eines seiner Bücher, und dieser Titel steht programmatisch für sein Lebenswerk, das ganz unzeitgemäß eine bescheidene und einfache Lebensweise empfiehlt. Es erinnert uns daran, dass die sozialen Fähigkeiten des Menschen leider keine mit der Entwicklung der Technik vergleichbaren Fortschritte gemacht haben, was die weltweite Präsenz von Armut, Gewalt und Umweltzerstörung hinlänglich beweist.

Die Kompetenz eines Autors und die Relevanz seiner Themen sind - auch das ist bemerkenswert - aber leider keine Garantie dafür, dass Bücher gelesen werden. Von den zahlreichen lieferbaren Titeln von Frederick Mayer war im Oktober in zehn einschlägigen Buchhandlungen in Wien kein einziges lagernd. Vielleicht hilft da der Hinweis, dass das potenzielle Zielpublikum sicher keine vernachlässigbare Randgruppe ist: Wer nach Aufmerksamkeit hungert, unter sadistischen Mitmenschen leidet oder Politik als beängstigend empfindet, findet bei Frederick Mayer wirksamen Trost. Es läge zudem die Bestückung institutioneller Bibliotheken mit Mayers Büchern nahe. Vom Kindergärtner bis zum Altenpfleger reicht nämlich das Spektrum derer, die bei ihm guten Rat finden können.

Unbequem ist dieser Rat zwar oft, aber dafür stets auf höchstem Niveau. Quer durchs Alphabet und die Geschichte - von Aristoteles bis hin zu Jean Ziegler - greift Mayer auf die Weisheiten der engagiertesten Humanisten und klügsten Köpfe zurück, um Arroganz und Dummheit zu demaskieren. Zum Beispiel auf George Bernard Shaw, der erklärte: "Das Merkmal des Barbaren ist, dass er seinen Stamm mit dem Universum verwechselt."

Damit trifft der Kosmopolit Mayer diesseits und jenseits des Atlantiks regierende Provinzler. Und das weit härter als Adriana Huffington mit ihrem für Bush eigentlich schmeichelhaften Vergleich. Der Don Quijote war ja ein Mann mit eindeutig guten Absichten. Wie kann man das von einem aktiven Politiker so sicher sagen? (Peter Jungwirth/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11./12. 11. 2006)