Dr. Antonella Mei-Pochtler ist Senior Partnerin von BCG in Wien.

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Nuri, die schöne Tigerin im Ra-thambhore-Reservat habe ich zwar nicht gesehen, trotzdem hat meine Liebe zum Tiger Flammen gefangen. Nicht wegen der beeindruckenden 8,1 Prozent Wachstum, den 1,1 Mrd. Einwohnern, davon 550 Mio. unter 25, den 300.000 neuen Ingenieuren pro Jahr und den fünf Mio. neuen Mobiltelefonanschlüssen - monatlich. Nicht allein die Daten beeindrucken, sondern Indiens Seele. Dieses "Globalisierungslabor", wie es mein Kollege Arun Maira beschreibt, versucht einen Weg einer beschleunigten Entwicklung unter Berücksichtung demokratischen Konsenses und kultureller Gegebenheiten zu gehen. Für Indiens Finanzminister Chidambaram ist das Einholen Chinas nicht eine Frage des Ob, sondern des Wann. Er machte klar, dass man mit zahlreichen Kontrasten fertig werden muss:

1. Starke Industrien, Herausforderung Landwirtschaft: Die im Westen gehegte Vorstellung einer globalen "Arbeitsteilung" (mit China als "Werkbank" und Indien als "Büro der Welt") entspricht so wenig der Wirklichkeit wie die bonbonfarbenen Happyends im indischen Liebesdrama. Ob Mittal-Arcelor oder neuerdings Tata-Corus, die Mega-Mergers im Stahlsektor zeigen, dass globale Wettbewerber entstehen - Beispiel Pharma: Noch vor zwei Jahren war Ranbaxy der einzige Multi mit Niederlassungen in 25 Ländern - heute sind es bereits zwölf; gemessen an der Produktion rangiert die indische Pharma- industrie weltweit auf Rang vier mit acht Mrd. Umsatz im Jahr 2005. Mehr noch als für die Industrie gilt, dass der Agrarsektor weiterentwickelt werden muss. Der Anteil der Industriebeschäftigten liegt bei 16 Prozent - 60 Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft.

2. Stärkung des Finanzmarkts, Herausforderung Staat: Die schnell wachsenden Unternehmen sind auf Kapital angewiesen wie die globalen Finanzdienstleister auf Wachstum: Waren es zunächst IT- und Verwaltung, so wandern mittlerweile auch Kernbereiche wie die Abwicklung des Wertpapiergeschäfts nach Indien ab. In Bombay und Bangalore entstehen Verwaltungszentren der Deutschen Bank, seit 2005 wurden acht neue Filialen eröffnet. Neben der Bürokratie entwickelt sich das Staatsdefizit von rund 31 Mrd. Dollar (zehn Prozent des BIP) zur Bedrohung. Investitionen in die Infrastruktur, Energieversorgung und Transportnetze, sind nötig wie ein Ausbau des Rechtssystems.

3. Wettbewerbsvorteil Arbeitskräfte, Nachteil Arm-reich-Gefälle: Indi-ens Wachstum hängt auf absehbare Zeit vom Dienstleistungssektor ab und damit von einer wachsenden Zahl qualifizierter Arbeitskräfte. Der Talentpool ist riesig, doch "weiche" Faktoren wie Managementkapazitäten sind rar, weil sie zu den "Exportschlagern" gehören. Wie in China entwickelt sich in den Städten eine kaufkräftige Mittelschicht; doch weit schärfer wirkt sich der Kontrast zwischen Stadt und Landbevölkerung aus, die in Indien 74 Prozent der Bevölkerung ausmacht und vom "neuen Indien" noch kaum etwas zu sehen bekommen hat - das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 470 Dollar nicht einmal halb so hoch wie in der Stadt.

Tigerin Nuri tauchte nicht auf, weil ihr die Brutpflege wichtiger war. Indien, Wirtschaftswunder und Armenhaus zugleich, muss sich um Perspektiven für die junge Generation sorgen. 40 Prozent Analphabetenrate, 47 Prozent Kinderunterernährung und 60 Prozent Mädchen ohne Schulabschluss sind eine immense Herausforderung. "Promises to keep and miles to go", beschrieb Nehru den Pfad. Der indische Tiger gehört schon lange in unseren strategischen Tank! (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11./12.11.2006)