STANDARD: Sie reisen nun viel in Westeuropa, waren kürzlich in London zu einem Vortrag und kommen nun nach Wien – wird Armeniens Position in Europa verstanden?

Baghdasarian: Armenien ist im Westen sehr wenig bekannt. Man versteht nicht, was wir wollen. Die Westeuropäer wollen ein demokratisches Armenien sehen, sie wollen wissen, wie wir uns unsere Zukunft vorstellen. Unsere Außenpolitik aber ist passiv. Wir brauchen neue Ideen.

STANDARD: Armeniens Außenminister sprach immer von einer „Politik der Komplementarität“, von guten Beziehungen zu Russland wie zur EU, die sich ergänzen würden.

Baghdasarian: In unserer Außenpolitik sollte einiges klarer werden. Vartan Oskanians Formel versteht man nicht mehr, weder hier in Armenien noch im Ausland.

Meine Richtlinien wären: erstens Vertiefung der Beziehungen mit der EU – mit dem langfristigen Ziel eines Beitritts zur Union; zweitens sehr enge Beziehungen zur Nato, was unsere Armee stärken würde; drittens Entwicklung der Zivilgesellschaft; viertens schließlich die russische Frage. Dabei gibt es zwei Wege – sich nach Westen zu orientieren und schlechte Beziehungen mit Russland hinzunehmen oder aber ein konstruktives Verhältnis zu Moskau zu bewahren. Was heute in Georgien geschieht, scheint mir nicht der richtige Weg. Zweieinhalb Millionen Armenier leben und arbeiten in Russland. 80 Prozent der Energieversorgung in Armenien sind in russischen Händen. Das müssen wir alles berücksichtigen, auch die gemeinsame Geschichte. Aber wir sollten nicht von einer "Komplementarität" reden, sondern klar machen: Die Zukunft Armeniens ist Europa.

STANDARD: Eine Mehrheit für diese Ansicht haben Sie unter den gegenwärtigen politischen Umständen in Armenien nicht. Sie mussten als Parlamentspräsident zurücktreten, weil Sie in einem Interview mit einer deutschen Zeitung den Beitritt Armeniens zur Nato zum Ziel erklärt hatten.

Baghdasarian: Es gab Meinungsverschiedenheiten mit dem Staatspräsidenten in drei Punkten: bei der Bekämpfung der Korruption, bei demokratischen Reformen, in der Außenpolitik. Ich hätte selbstverständlich auch schweigen und im Amt bleiben können, aber ich bin zurückgetreten, um für diese Anliegen weiter zu kämpfen.

Nehmen wir das Beispiel der Privatisierungen. Ich habe die Regierung direkt kritisiert, weil gewisse Leute sehr viel Geld bei diesen Geschäften gemacht haben. Ein Beispiel: Ein 4000 Quadratmeter großes Grundstück in der Nähe der Oper in Eriwan, das heute über sechs Millionen Dollar wert ist, ist so für 30.000 Dollar aus dem Staatsbesitz verkauft worden. Soll man das verteidigen? Oder den Verkauf unseres Energiesektors ohne öffentliche Diskussion und ohne der Bevölkerung Gehör zu schenken?

STANDARD: Das französische Parlament hat die Leugnung des Völkermords an den Armeniern zu einem Strafbestand erklärt und damit heftige Reaktionen in der Türkei ausgelöst. Wie soll es weitergehen mit Armeniens Verhältnis zur Türkei?

Baghdasarian: Wir brauchen qualitativ neue Beziehungen in unserer Region. Warum ist es nicht möglich, eine Pipeline von Aserbaidschan nach Armenien zu legen? Warum haben wir keine Zugverbindung in die Türkei? Einige Leute in Armenien mögen diese Fragen für lächerlich halten. Aber das ist die Zukunft. Es würde bedeuten: Unsere Nachbarn sind nicht unsere Gegner. Unsere neue politische Generation denkt so. Wir sollten mit der Türkei sprechen – über den Völkermord, über Berg-Karabach. Wir werden alle Kompromisse machen müssen. Die Geschichte ist wichtig, aber die Zukunft ist wichtiger. Die Türkei geht heute in Richtung Europa. Tritt sie der EU bei, haben wir einen demokratischen Nachbarn. Wir sollten mit demselben Zug fahren und ihm nicht Steine in den Weg legen. (Die Fragen stellte Markus Bernath, DER STANDARD, Print, 23.11.2006)