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Jedes Mal, wenn ein Mensch seine Ausweglosigkeit im Tode zu beenden sucht, lief zuvor etwas schief in unserem System. Es ist kein Leichtes den Arm hoch zu hieven, das Visier auf ein menschliches Ziel zu richten und den Abzug nach hinten schnellen zu lassen. Jeder einzelne Schritt ist ein Gipfelsturm, jeder Nervenstrang steht unter Strom. So einfach ist das Töten nicht.

 

"Um die Gewalt in der Gesellschaft zurückzudrängen, ist das Verbot solcher Killerspiele notwendig." - Günther Beckstein

Irgendwo, aus den Gerümpelkammern antiquierter Weisheit schallen Pauschalisierungen, Trivialerklärungen, um so rasch wie nötig die eigene Ratlosigkeit zu übertönen. Die Unfähigkeit reale Zusammenhänge erfassen zu können, mündet in hektischen Schilderungen von Pseudokausalitäten. Als Spitze der Evolution gepriesen, reduzieren Gewaltereignisse das Menschliche zur primitiven Reiz-Reaktions-Maschine. Politiker, Anwälte, Interessenvertreter und alle, die es gerade juckt, sammeln sich vor ihren Sprachrohren und überfluten die Öffentlichkeit mit ach so schlüssigen Erklärungsergüssen: "Killerspiele animieren Jugendliche, andere Menschen zu töten".

"Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, das ich ein Verlierer bin." - Bastian B.

Und im Sud der Verunsicherung treibend, kommt die Erkenntnis: "Medien sind brutal, Medien sind pornographisch, Medien sind das Übel des Informationszeitalters." Doch Medien sind auch Spiegel unserer Welt. Nichts was auf den heimischen Bildschirmen gezeigt wird, ist einer Phantasie entsprungen. Auf den Straßen schlachten sich Reiche und Arme, Religiöse und Fanatische, Starke und Schwache ab, während in irgendeinem Hinterzimmer, irgendwo auf diesem Planeten ein zehnjähriges Mädchen seine Unschuld "verliert" und ein Firmenboss in einem Zug seinen Karibik-Urlaub bucht und die halbe Belegschaft feuert. Aber provozieren virtuelle Ereignisse Amokläufe, Schulmassaker oder Familientragödien?

"Killerspiele sollten in der Größenordnung von Kinderpornographie eingeordnet werden, damit es spürbare Strafen gibt!" - Günther Beckstein

Es ist anzuzweifeln, dass Edmund Stoiber, Jack Thompson und Co. die Antwort auf diese Frage kennen. Es ist anzuzweifeln, dass hinter diesen Namen Spezialisten stehen. Ihre Meinungsäußerungen sind dennoch von merklicher Tragweite und veranschaulichen das Dilemma einer bestimmten Riege an Führungspersonen. Denn, wenn Gewaltspiele echte Morde verursachen, dann provoziert auch die Wahrscheinlichkeit der Existenz von Massenvernichtungswaffen Kriege, der bloße Glaube an den Koran Terroranschläge und sowieso macht Autofahren dick. Es hapert an der Wahrnehmungstoleranz und an der Bereitschaft tiefer schürfen zu wollen - nett formuliert.

"I swear - like I’m an outcast, & everyone is conspiring against me..." - Dylan Klebold

Die Gesellschaft ist ein gigantischer Wirbelsturm, der alles, nein, jeden aufsaugt und immer wieder Teile seiner rotierenden Elemente nach außen wirft. Was zu schwer ist, bleibt auf der Strecke. Was der Umfang nicht fassen kann, vibriert am Rande mit, zerfällt oder bildet einen zweiten Schlauch. Dieser Sog reißt das Liegengebliebene an sich, wird zur Wulst, zeichnet Risse und platzt auf. Tropfen prasseln nieder, formen sich zum Fluss. Jede Stadt und jeden Ort streift die rote Linie, selektiert, brennt ein Zeichen fehlgeschlagener Sozialisation in unsere Straßen. Markierte Menschen drückt es an den Rand, sie vereinsamen und zurück bleibt ein leises Ticken. Die Explosion wird wahr, wenn der Ton verstummt, wenn die Schreie keiner hören will.

"Yes, just as Ted Bundy escaped into pornography. It is not a release of aggression. It is training for aggression." - Jack Thompson on "Is gaming escapism?"

Die erste Ohrfeige eines Elternteils vergisst man nie, den ersten virtuellen Mord beinahe noch im selben Augenblick. Eine Bloßstellung unter Klassenkollegen, prägt das eigene Auftreten das gesamte restliche Semester lang, wüste Beschimpfungen unter Leinwandhelden verhallen im Popcorngeraschel des Sitznachbarns. Von der Matura (alp)träumen manche ihr ganzes Leben lang, der Endgegner in Tomb Raider macht Spaß, wenn nicht, dreht man halt ab. Der Mensch, egal wie alt, lernt am Modell. Seine Umwelt prägt ihn und reale Ereignisse ziehen seine Aufmerksamkeit, ob bewusst oder nicht, auf sich.

"It’s my fault! Not my parents, not my brothers, not my friends, not my favorite bands, not computer games, not the media, it’s mine." - Eric Harris

Spielend kann man vieles lernen. Logisches Denken, zielgerichtetes Arbeiten, Teamwork, Fingerfertigkeit, Reaktionsschnelligkeit, Kommunikationsregeln, Rollenverhalten, kognitive Ausdauer, Wettbewerbsdenken, Langeweile, Frust, Ermüdung , Monotonie und was geistig und sensorisch sonst noch möglich ist. Schmerzen, Liebe, Hass, Zufriedenheit und was unser Leben in Bewegung hält jedoch, erschließt sich uns vorrangig in der Wirklichkeit. Die vieldiskutierte Realitätsflucht wurzelt nicht ohne Grund im ersten Teil des Wortes. Das Tor zum Eskapismus öffnet nicht der Fernsehtroll. Der Weg in die Isolation wird nicht von kecken Avataren geebnet. Und so oft man es rein technisch üben kann, die Absicht zu töten lernt man nicht durchs Tastenklimpern.

"digital poison" - Joe Lieberman

So mag nicht jeder Film und jedes Spiel und jeder Text für jede Entwicklungsstufe geeignet sein, das Verbot käme einer Tatsachen-Verkennung gleich. Kreative Schöpfungen werden als Sündenbock missbraucht, ihre Dämonisierung soll die eigene Ignoranz vor sozialen Missständen vernebeln. Und warum? Weil die Herren und Damen an der Spitze, angesichts ihres Unvermögens, in Erklärungsnotstände geraten, weil die Ablenkung gerade recht kommt oder weil die Schlagzeilensucht sie treibt. In den USA werden Schusswaffen als Werbegeschenke verteilt, in Österreich werden im Supermarkt Doppler an Zwölfjährige verkauft – Alltagsgeschichten, die im blendenden Hysteriegeschwafel zwischen den Zeilen verschwinden.

"Ich bin weg." - Bastian B.

Senkt man das Budget für Bildung und Soziales braucht man sich über "Schwarze Schafe" nicht zu wundern. Solange Regierungen ihre Mittel für Rüstung, Militär und persönliche Interessen verheizen und sich vor der "sowieso" Chancengleichheit, der "unbezahlbaren" sozialen Absicherung und dem "im Vergleich eh sehr guten" intellektuellen Fortschritt der Allgemeinheit drücken, ist jede Diskussion über die Gefahr durch Medien obsolet und nichts als Realitätsverweigerung. Reale Systemfehler, reale Ursachen, reale Probleme verantworten reale Tragödien. Die Monster aus Doom fressen keine Kinderseelen und die Terroristen aus Counterstrike werfen keine Rohrbomben in Klassenzimmer – Fiktion ist als Zündstoff wohl kaum von Nöten, dafür hat unsere Gesellschaft längst gesorgt. (Zsolt Wilhelm, derStandard.at)