Walter Marschitz: "Ich glaube, dass es angesichts der Regierungsunerfahrenheit eines möglichen Kanzlers Gusenbauer für das Land sinnvoll wäre, einen erfahrenen Staatsmann wie Wolfgang Schüssel an Bord zu halten."

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Die Große Koalition bringt einen "Rückfall in die Lähmung des politischen Systems und Aufwind für extreme Strömungen." Diesen Standpunkt vertrat die "Plattform für offene Politik" im Zuge der Koalitionsverhandlungen 2002 und sprach sich für Schwarz-Grün aus. Die 1996 ins Leben gerufene Initiative, die von Personen initiiert wurde, die der ÖVP nahe stehen, spricht sich für mehr Liberalität und Toleranz aus. Im Interview mit derStandard.at erklärt Walter Marschitz als Sprecher der Plattform, welche Fehler die ÖVP im Wahlkampf 2006 begangen hat und welche Punkte sie bei ihrer Reform berücksichtigen sollte. Die Fragen stellte Rainer Schüller.

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derStandard.at: Die Plattform für offene Politik hat seit 1996 versucht, die ÖVP zu Reformen zu bewegen. 2006 gibt es jetzt um Josef Pröll eine eigene Reformgruppe. Was hätte es der ÖVP gebracht, wenn sie früher auf POP gehört hätte?

Marschitz: Die Plattform ist 1996 als unabhängige private Initiative gegründet worden, die Reformgruppe um Josef Pröll ist ein Projekt im Auftrag des Bundesparteivorstandes der ÖVP. Hätte-wenn-Fragen sind immer schwer zu beantworten. Ich glaube zum Beispiel, dass die ÖVP, hätte sie sich in manchen Fragen weltoffener präsentiert, in den Städten besser dastünde.

derStandard.at: In welchen Punkten hätte die ÖVP auf POP hören sollen?

Marschitz: In welchen nicht ... ? Vor allem in einigen Fragen der Gesellschaftspolitik, bei der Staatsreform und bei der Thematisierung der sozialen Gerechtigkeit hätte man anders agieren müssen.

derStandard.at: Wo genau sehen Sie die Gründe für das schlechte Wahlergebnis der ÖVP?

Marschitz: Der größte Teil der Verluste geht auf die geänderte Konkurrenzsituation mit der Reorganisation des dritten Lagers und dem Antreten von Hans-Peter Martin zurück. Der erste Platz wurde dann wohl im Wahlkampf verloren. Dabei halte ich das Fehlen eines Zukunftsversprechens für zentral.

derStandard.at: Was erwarten Sie sich von der Perspektivengruppe um Pröll?

Marschitz: Ich kann diesen Prozess noch nicht überblicken und war bis dato daran auch nicht beteiligt. Grundsätzlich erwarte ich mir eine Neupositionierung in jenen Fragen, wo die ÖVP bisher Schwächen gehabt hat.

derStandard.at: Eher "liberale" ÖVP-Kräfte wie z.B. der Wiener Johannes Hahn und der Burgenländer Franz Steindl haben bei der Nationalratswahl in ihren Bundesländern auch schlecht abgeschnitten. Bringt der "liberale" Weg (zb. durch Gleichstellung homosexueller Partnerschaften) die ÖVP auch nicht weiter?

Marschitz: Die Volkspartei kann nur als breite Partei und nicht als Flügelpartei Erfolg haben. Außerdem haben sowohl die ÖVP Wien als auch die ÖVP Burgenland bei den letzten Landtagswahlen zugelegt. Der "liberale Weg" ist nicht auf die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften zu reduzieren, auch wenn dieses Thema natürlich dazugehört.

derStandard.at: Die POP hat sich 2002 für Schwarz-Grün und gegen die Große Koalition ausgesprochen. Wie sehen Sie die Situation bei den aktuellen Regierungsverhandlungen?

Marschitz: Eine Große Koalition ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie große Vorhaben angeht, etwa die Staatsreform. Im Gegensatz zu 2002 gibt es aber diesmal keine realistischen Alternativen.

derStandard.at: Soll die ÖVP in Opposition gehen, wie das Teile der Partei fordern?

Marschitz: Die ÖVP ist keine Protestpartei, sondern eine Volkspartei. Und eine Volkspartei muss immer einen Gestaltungsanspruch stellen.

derStandard.at: Denken Sie, dass es zur Großen Koalition kommen wird?

Marschitz: Ich bin leider kein Prophet, aber ich glaube, dass maßgebliche Teile der SPÖ diese nicht wollen. Anders kann ich mir beispielsweise das Verhalten von Klubobmann Cap nicht erklären. Offenbar war die SPÖ vom Ergebnis so überrascht, dass sie den Schalter von der Oppositionspartei zur mit der Regierungsbildung beauftragten Partei noch nicht umgelegt hat. Auch die ÖVP hatte ja offensichtliche Probleme, mit der neuen – für sie ebenfalls unerwarteten - Situation umzugehen.

derStandard.at: Was halten Sie von Studiengebühren und Eurofightern? Sollten erstere abgeschafft und zweitere abbestellt werden?

Marschitz: Studiengebühren können dann sinnvoll sein, wenn sie als Steuerungselement an der Uni selbst eingesetzt werden, etwa hinsichtlich des Angebots von Lehrveranstaltungen oder bei Prüfungsantritten. Die Abbestellung der Eurofighter in diesem Vertragsstadium wäre wohl ein Schildbürgerstreich.

derStandard.at: Es gibt innerhalb der ÖVP Stimmen, die den Abtritt von Schüssel verlangen. Der Bundeskanzler hat angekündigt, "in der Politik" bleiben zu wollen. Wie lange sollte Schüssel noch ÖVP-Chef bleiben?

Marschitz: Diese Stimmen haben offenbar vergessen, in welcher Situation Schüssel die Partei übernommen hat und was er in den letzten Jahren erreicht hat. Leider haben wir in Österreich noch keine politische Kultur, die Niederlagen als notwendigen Teil des demokratischen Spiels sieht. Schüssel soll daher so lange bleiben, so lange er für die ÖVP die beste Führungsoption ist. Unabhängig davon muss aber in die Entwicklung von geeigneten Führungspersönlichkeiten investiert werden.

derStandard.at: Denken Sie, dass er Vizekanzler wird?

Marschitz: Ich glaube, dass es angesichts der Regierungsunerfahrenheit eines möglichen Kanzlers Gusenbauer für das Land sinnvoll wäre, einen erfahrenen Staatsmann wie Wolfgang Schüssel an Bord zu halten. Letztlich wird er das aber wohl selbst entscheiden.

derStandard.at: Sollte Grasser Vizekanzler bzw. ÖVP-Spitzenkandidat werden?

Marschitz: Es würde der Personalpolitik der ÖVP in den letzten Jahren ein schlechtes Zeugnis ausstellen, wenn man für diese Positionen auf parteifreie Persönlichkeiten zurückgreifen müsste. Finanzpolitisch hat Minister Grasser einiges vorzuweisen, eine Gesamtbeurteilung fällt mir aber schwer, weil ich seine Positionen in anderen wichtigen Fragen nicht kenne.

derStandard.at: Wer wäre der geeignetste Nachfolger für Schüssel?

Marschitz: Das kommt nicht zuletzt auf den Zeitpunkt an, zu dem sich diese Frage stellt.

derStandard.at: Denken Sie, dass die ÖVP die SPÖ bei der kommenden Wahl wieder überholen könnte? Was wären die Voraussetzungen dafür?

Marschitz: In Zeiten einer hohen Wählermobilität beginnt jede Wahl wieder fast bei Null. Da die SPÖ eine etwas höhere Stammwählerbasis als die ÖVP hat, muss sich die Volkspartei aber immer besonders anstrengen, um vor der SPÖ zu liegen.