Andrea Reisinger: "Unsere Entscheidung war, dass wir vor Ort bleiben, auch um unseren lokalen Mitarbeitern Schutz zu bieten."

foto: rotes kreuz
Andrea Reisinger war eineinhalb Jahre in Sri Lanka für das Rote Kreuz in der Tsunami-Hilfe tätig. Im Interview mit derStandard.at beschreibt sie, wie humanitäre Arbeit trotz bürgerkriegsähnlicher Zustände möglich ist. Die Fragen stellte Rainer Schüller.

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derStandard.at: Die Lage in Sri Lanka scheint sich fast täglich zu verschlechtern. Auch heute gab es wieder einen Anschlag. Würden Sie von einem Bürgerkrieg sprechen?

Reisinger: Es gibt ja seit 2002 offiziell einen Waffenstillstand, dieser wurde in den letzten Monaten jedoch immer wieder gebrochen. Beide Konfliktparteien haben bis jetzt den Waffenstillstand noch nicht aufgehoben, rein rechtlich kann also nicht von Bürgerkrieg gesprochen werden. De facto gibt es aber die konfliktartige Situation.

derStandard.at: Wie ist humanitäre Arbeit in einer derartigen Situation überhaupt noch möglich?

Reisinger: In den letzten Monaten sind viele kleine Organisationen auf Grund der Vorfälle aus dem Konfliktgebiet abgezogen. Das Internationale Kommitte des Roten Kreuzes ist schon seit 20 Jahren vor Ort, was den Vorteil hat, dass es eine sehr gut ausgebaute Infrastruktur gibt, die die kleinen Organisationen nicht haben. Wir beginnen jeden Tag mit einem Sicherheitsbriefing über die Lage und fahren in das Projektgebiet nur mit Funk. Wir haben auch sehr gut ausgebildete Delegierte vor Ort.

derStandard.at: Sind auch Tamilen unter den Mitarbeitern?

Reisinger: Unsere gesamte Delegation, das sind 25 lokale Mitarbeiter aus Batticaloa, besteht aus Tamilen, die einen sehr guten Einblick in die Situationen haben und uns Ratschläge geben können. Umgekehrt ist es aber auch so, dass sich die lokalen Mitarbeiter sicherer fühlen, wenn wir dabei sind, wenn man ins Projektgebiet fährt.

derStandard.at: Es wurden auch Tsunami-Helfer hingerichtet. Wie gehen Sie mit dieser ständigen Bedrohung um?

Reisinger: Wir haben seither noch strengere Sicherheitsvorkehrungen. Unsere Entscheidung war, dass wir vor Ort bleiben, auch um unseren lokalen Mitarbeitern Schutz zu bieten. Die lokalen Mitarbeiter von Aktion gegen Hunger (ACF), die umgebracht wurden, waren alleine im Projektgebiet.

derStandard.at: Nach der Ermordung der Tsunami-Helfer gab es gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen Regierung und der LTTE. Weiß man inzwischen, wer wirklich dahinter steckte?

Reisinger: Eine Untersuchungskommission tagt diesbezüglich. Offiziell ist noch nicht geklärt, wer an dem Massaker schuld war.

derStandard.at: Schon im Sommer berichtete Ihre Kollegin gegenüber derStandard.at über Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Ist das nun noch schlimmer geworden?

Reisinger: Wir haben drei Projektgebiete, davon ist eines im LTTE-kontrollierten Gebiet. Hier haben wir seit August nur sehr sehr beschränkten Zugang. Unser Projektmitarbeiter kann nur einmal pro Monat rauf. Es gibt hier allerdings den Ansatz, dass die Leute ihre Häuser selber bauen mit Material, das wir ihnen zur Verfügung gestellt haben.

Bei den anderen zwei Gebieten in Trincomalee und Batticaloa kontrolliert mit Ausnahme eines Projekts die Regierung das Gebiet. Hier haben wir jeden Tag Zugang.

derStandard.at: Es gibt also trotz bürgerkriegsartiger Lage Fortschritte in der Tsunami-Hilfe?

Reisinger: Es geht den Umständen entsprechend sehr gut voran. Eben durch diesen Ansatz, dass sich die Leute sehr viel selber machen und wir sie nur unterstützen. Im Moment haben wir einen recht stolzen Baufortschritt.

derStandard.at: Haben Sie auch Kontakt zu LTTE-Vertretern?

Reisinger: Wenn wir ein Projekt im LTTE-kontrollierten Gebiet haben, dann haben wir auch Kontakt zu den dortigen LTTE-Behörden. Alle unsere Projekte sind mit LTTE und Regierung abgesprochen, nur so funktioniert das im Moment. Wenn man es einseitig macht, kann es durchaus sein, dass man zum Beispiel kein Material in das Gebiet bekommt.

derStandard.at: Zum "militärischen Arm" der Tamil Tigers haben Sie auch Kontakt?

Reisinger: Nein. Nur mit den LTTE-Vertretern, die zivile Positionen ausüben. Was das Militär betrifft, beschränkt sich unser Kontakt auf die Checkpoints der sri lankesischen Armee.

derStandard.at: Die Spirale der Gewalt hat erst wieder vor ca. einem Jahr mit der neuen Regierung eingesetzt. Diese fährt einen härteren Kurs gegenüber den Tamil Tigers. Wie sehr ist sie mitverantwortlich an der Sitation?

Reisinger: Ich bin Expertin für die Hilfe und nicht für die Beurteilung einer politischen Situation. Das Rote Kreuz hilft unabhängig von der Verantworlichtkeit für die Situation den Meistbetroffenen. Für diese ist es meist unerheblich, wer daran schuld ist.

derStandard.at: Das österreichische Außenministerium spricht von einem "erhöhten Sicherheitsrisiko" für Reisen nach Sri Lanka. Was würden Sie Menschen raten, die trotz der heiklen Situation nach Sri Lanka reisen möchten?

Reisinger: Das Risiko ist jetzt mit Sicherheit um Einiges höher als früher. Es gab jetzt auch Anschläge in Colombo und in Galle, das im Touristengebiet liegt. Klar ist, dass man in den Osten und Norden momentan nicht reisen darf. Im Süden herrscht ein anderes Bild. Hier sind die Strände weiterhin von Urlaubsstimmung gekennzeichnet.

derStandard.at: Gibt es dort momentan überhaupt Touristen?

Reisinger: Ja, schon. Als Tourist bekommt man auch kaum mit, was im Norden und Osten vor sich geht. Mit einer gewissen Risikobereitschaft kann man schon nach Sri Lanka reisen, ich möchte hier aber keine Reiseempfehlung geben. Norden und Osten sollte man meiden.

derStandard.at: Werden Sie selbst wieder nach Sri Lanka zurück kehren?

Reisinger: Mein Vertrag in Sri Lanka ist nach eineinhalb Jahren abgelaufen. Ich werde jetzt einen längeren Urlaub machen und dann wieder für das Rote Kreuz ein Projekt machen.

derStandard.at: Wo urlaubt man, wenn man von Sri Lanka kommt?

Reisinger: In Oberösterreich. Ich würde gerne ein wenig Ruhe haben und Skifahren, aber es gibt ja leider keinen Schnee hier.