Boris Reitschuster: "Ich habe Warnungen erhalten, mit meinem Buch hätte ich mein Todesurteil unterzeichnet."

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Boris Reitschuster arbeitet als Journalist in Moskau. Im Interview mit derStandard.at erklärt er, wer hinter dem Mord an Alexander Litwinenko stecken könnte und warum er seine Arbeit trotz Drohungen wie "so ein Lausei wie du gehört abgemurkst" weiter fortsetzt. Die Fragen, auf die Reitschuster "aus Selbstschutz" manchmal indirekt antwortete, stellte Rainer Schüller.

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derStandard.at: Wie wird in Moskau die Vergiftung von Litwinenko aufgenommen? Wen vermuten die Medien, wen die Bevölkerung dahinter?

Reitschuster: Ob tschetschenische Atombombe, zufällige Vergiftung mit Meerestieren oder atomare Blutrache aus dem Kaukasus: Keine Version und keine Verschwörungstheorie ist den russischen Medien derzeit zu abwegig – wenn sie nur vom eigenen Geheimdienst wegführt.

Gerade weil die Propaganda-Maschine derart auf Hochtouren läuft, hegen kritische Russen erst recht den Verdacht, dass der eigene Staat seine Finger im Spiel hat. Das ist, wie wenn jemand allzu laut und oft schreit "Ich war es nicht" und auf andere zeigt – dadurch wirkt man erst recht verdächtig.

derStandard.at: Es gäbe da noch die Theorie, dass Litwinenko Polonium geschmuggelt haben könnte und sich selbst dabei vergiftete. Was halten Sie davon?

Reitschuster: Ich halte das für Unsinn und den Versuch, ihn im Nachhinein zu diskreditieren. Erst kam der Mord, jetzt kommt der Rufmord. In dieser Richtung wird sicher noch mehr folgen. Litwinenko mag alles andere als ein strahlender Held gewesen sein - aber er war sicher auch kein Verrückter.

derStandard.at: Wer steckt Ihrer Meinung nach dahinter?

Reitschuster: Ein russischer Kollege hat böse kommentiert, die Tragödie sei, dass man die Tat jedem in der russischen Führung zutrauen könne. Schon aus Selbstschutz will ich mir diese Worte natürlich nicht zu eigen machen. Aber sehr viel spricht dafür, dass es sich um die ersten Vorbeben für die internen Machtkämpfe um die Putin-Nachfolge handelt.

Ich halte auch Terroranschläge im Vorfeld der Wahlen für möglich – schon 1999 hatten wir ja eine Situation, in der mysteriöse Bombenanschläge auf Wohnhäuser die innenpolitische Stimmung zu Gunsten Putins kippten. Da wir keinen offenen, geregelten Weg für eine friedliche Machtübergabe in Russland haben, da es keine echte politische Landschaft mehr gibt, erfolgt der Kampf hinter verschlossenen Türen – und, so fürchte ich, wohl auch mit verbotenen Waffen.

derStandard.at: Könnte es Putin nicht auch schaden, wenn der Kreml ständig des Mordes verdächtigt wird?

Reitschuster: Im Westen sicher ganz ungemein. Im Inland könnten solche Vorwürfe auch zusammenschweißen: Schon heute stellen die russischen Medien sie vermehrt als Verschwörung des Westens hin, mit dem finstere Kräfte Russland und seinen Präsidenten schwächen wollen.

derStandard.at: Litwinenkos Vertrauter Scaramella vermutet "pensionierte russische Geheimdienst-Agenten" hinter dem Mord. Welche Rolle könnte der russische Geheimdienst gespielt haben?

Reitschuster: Die Rüstigkeit von russischen Rentnern in allen Ehren: Ich habe meine Zweifel, ob sie in der Lage sind, Polonium mit einem Schwarzmarktwert von Dutzenden Millionen Euro, zu beschaffen und durch alle Grenzkontrollen zu schaffen.

Außerdem sagte einst Wladimir Putin als FSB-Chef, es gebe keine ehemaligen Geheimdienstler, man sei das für das ganze Leben. Warum sollten sich also Ex-Agenten gegen ihren Dienst stellen? In diesem Jahr wurde der FSB übrigens per Gesetz ermächtigt, auf Befehl von ganz oben Terroristen auch im Ausland zu "liquidieren" – also umzubringen.

derStandard.at: Denken Sie, dass der Kreml direkt verantwortlich sein könnte?

Reitschuster: Sollte tatsächlich der Geheimdienst involviert sein, wäre die heikle Frage, inwieweit die "Vertikale der Macht" funktioniert, die Putin so oft beschworen hat – also ein System, in dem alles von oben bestimmt wird. Sollte Putin die Geheimdienste, die er selbst entfesselt hat, nicht mehr kontrollieren, würde er dafür die politische Verantwortung tragen.

Die sehe ich auch in anderen Bereichen: Für eine Atmosphäre, in der solche Gewalttaten geschehen, für die geschürte Intoleranz, in der Kritiker als Volksfeinde dastehen, dafür, dass es kaum Chancen auf Aufklärung gibt – und offenbar auch kein Interesse daran. Warum gibt es keinen unabhängigen Untersuchungsausschuss? Warum stockt die Zusammenarbeit mit den britischen Ermittlern?

derStandard.at: Sowohl Putin als auch Litwinenko haben ihre Karriere innerhalb des KGB begonnen. 1998 kam es zum Eklat: Litwinenko berichtete, seine Vorgesetzten hätten ihm befohlen, Boris Beresowski, zu ermorden. Sein oberster Dienstherr damals war Putin. Könnte es sich um späte Rache unter zwei Feinden handeln?

Reitschuster: Das sind Spekulationen. Und mit denen sollte man sich zurückhalten. Das muss man sogar: Nach einem neuen Gesetzesprojekt könnte ich mich mit allem anderen als einer klaren Verneinung Ihrer Frage der Beleidigung des russischen Präsidenten schuldig machen – was ein Delikt wäre.

derStandard.at: Wie sie bereits erwähnten, ist Polonium extrem teuer. Wer kann es sich überhaupt leisten, einen Widersacher so zu beseitigen, obwohl es dafür auch viel billigere Methoden gäbe?

Reitschuster: Beresowskij und andere betuchte Kreml-Kritiker hätten vielleicht das Geld, aber wohl kaum die Logistik. Außerdem überwachen sie die russischen Dienste auf Schritt und Tritt – sie müssten lebensmüde sein, so etwas zu riskieren – und Moskau hätte bestimmt schon längst belastendes Material vorgelegt.

derStandard.at: Russische Milliardäre sind in Großbritannien dick im Geschäft – siehe Fußball. Woher das Geld kommt, ist oft unklar. Könnte auch die so genannte "Russen-Mafia" die Hand im Spiel haben?

Reitschuster: Die Frage wäre, wo das Motiv liegen könnte, wessen Kreise Litwinenko gestört haben sollte. Im Moment sehe ich da keine Anzeichen. Aber es gibt ja böse Zungen, die einen fließenden Übergang zwischen Mafia und Politik in Russland sehen. Das mit Geldern aus dunklen Quellen zunehmend auch dunkle Geschäftspraktiken ihren Weg nach Westen finden, ist aber unabhängig vom Fall Litwinenko ein besorgniserregender Fakt.

derStandard.at: Welche Auswirkungen könnte die Affäre auf die Beziehungen zwischen Großbritannien und Russland haben, zumal ja die russischen Behörden nicht gerade kooperativ scheinen?

Reitschuster: Einiges spricht dafür, dass die britische Regierung politische Rücksicht nimmt und ihre Ermittler an der kurzen Leine führt; dafür spricht, dass sich die wichtigsten Meldungen bisher auf anonyme Aussagen aus Sicherheitskreisen stützen – das könnte ein Anzeichen sein, dass bei den Ermittlern Unzufriedenheit herrscht über einen "Maulkorb" von oben.

derStandard.at: Ist nun eine Eiszeit zwischen Europa und Russland ähnlich wie im Kalten Krieg zu befürchten?

Reitschuster: Ich denke, die wirtschaftlichen Beziehungen sind zu eng und man ist zu sehr aufeinander angewiesen, als dass man einen Kalten Krieg vom Zaum brechen könnte. Und das gilt für beide Seiten. Es wird viel von der Abhängigkeit des Westens von Russlands Gas und Öl gesprochen. Aber dabei unterschätzt man, dass Russland mindestens genauso abhängig ist vom Westen - von seinen Warenlieferungen, von Technologien, von Visa.

derStandard.at: Sie selbst haben ein kritisches Buch über Putin geschrieben. Wie schwierig ist es für Sie, in Moskau Ihrer Arbeit nachzugehen?

Reitschuster: Leider kann man nicht mehr alles sagen und schreiben, was man weiß. Auch, weil man seine Quellen schützen muss. Aber ich schreibe und sage zumindest alles, was ich denke. Man darf sich nicht einschüchtern lassen.

Doch manchmal muss man Kompromisse eingehen. Mein Buch sollte auf Russisch erscheinen. Nach den jüngsten Morden habe ich auf Anraten von verschiedenen Seiten die Pläne für eine Übersetzung gestoppt. Ich werde ständig ermahnt, "nicht so laut" zu sein. Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, wie diese schrecklichen Taten die geringen Reste von Meinungsvielfalt in Russland ersticken.

derStandard.at: Haben Sie keine Angst, selbst in das Visier der Gruppen zu geraten, die Kritik mit Mord abstellen, wie dies bei der Kreml-kritischen Journalistin Anna Politkowskaja passiert ist?

Reitschuster: Ich habe Warnungen erhalten, mit meinem Buch hätte ich mein Todesurteil unterzeichnet. Das war vor dem Mord an Politkowskaja und Litwinenko. Wenn dann so etwas passiert, denkt man schon mal ans Aufgeben. Oder wenn man im Internet als "Saujude" beschimpft wird und es heißt, so ein "Lausei" wie ich "gehört abgemurkst". Aber einzuknicken wäre meines Erachtens noch gefährlicher, als weiter zu machen. Und man will sich ja auch jeden Morgen im Spiegel ansehen können.