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Wladimir Sorokin

Foto: APA/EPA/Sorokin
Die Opritschnina, die gesetzlose Leibgarde von Iwan dem Schrecklichen, ist das Modell für den neuen Zukunftsroman des russischen Schriftstellers Wladimir Sorokin. Mit Eduard Steiner sprach er über seine Anleihen, die er für sein Buch beim heutigen russischen Staat nahm.

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STANDARD: Sie waren gerade privat in Deutschland. Ich nehme einmal nicht an, Sie bereiten sich auf eine Emigration vor.

Sorokin: Welche Frage! Bis dato plane ich es nicht.

STANDARD: Bis dato? Tauchen solche Gedanken in Russland auf?

Sorokin: Ja, bei unterschiedlichen Leuten. Bei Unternehmern, bei der Intelligenz. Und das beunruhigt mich. Interessant, dass vor vier Jahren noch niemand solche Gedanken hatte. Ich selbst würde nicht für immer aus Russland weg wollen. Aber viele unserer emigrierten Schriftsteller haben zuvor das Gleiche gesagt.

Solange man mich nicht am Schreiben hindert, werde ich nicht gehen. Unser Staat hat bereits eine spezielle Beziehung zu den Schriftstellern entwickelt, die sich freie Äußerungen zum Staat erlauben. Aus irgendeinem Grund werden immer die zu Staatsfeinden, die frei über alles schreiben. Dass sich manche dann zur Emigration gezwungen sehen, hat schon große Tradition.

STANDARD: Was hätten Sie aber konkret im Land zu befürchten? Gefährlich ist heute nur, so heißt es, konkrete Namen in gewissen heiklen Zusammenhängen zu nennen.

Sorokin: Es geht nicht nur darum. Es hat sich so ergeben, dass man bei uns in der Literatur noch am freiesten seine Meinung äußern kann. Ein wenig kann man auch noch in den Zeitungen sagen, im Fernsehen schon sehr wenig. Die Literatur wird Gott sei Dank von der staatlichen Zensur noch nicht kontrolliert.

Ich denke, zu allen Zeiten des 19. und 20. Jahrhunderts und auch heute hat die Beamten nicht allein der Inhalt, den der Autor äußert, sehr erschreckt, sondern, dass er überhaupt frei sprechen kann. Mein jüngstes Buch "Der Tag des Opritschnik" ist auch eine Fantasie über Russlands Zukunft. ("Opritschnik", der "Leibwächter", gehört hier zur 1565 gegründeten Leibgarde Iwan des Schrecklichen, Anm.)

STANDARD: Wie weit liegen in diesem Roman Ihre Vision und die Realität auseinander?

Sorokin: Gäbe es die realen Umstände nicht, hätte ich dieses Buch wohl kaum geschrieben.

STANDARD: Gewalt in jeder Form sei das Phänomen, das Ihnen auf der Welt am Widerlichsten ist, haben Sie wiederholt gesagt.

Sorokin: Das ist natürlich ein großes Thema. Aber es gibt eben konkrete Erscheinungen der Gewalt. Die "Opritschnina" ist ein sehr russisches Thema. Denn obwohl sie von Iwan dem Schrecklichen später offiziell liquidiert wurde, besteht ihre Kraft darin, dass ihre Idee weiterlebt. Sie ist in den Köpfen der Menschen, der Beamten, aufbewahrt. Ich wollte zeigen, dass sie bis jetzt existiert und weiter leben wird, wenn sich alles so entwickelt wie bisher.

STANDARD: Was könnte sich denn historisch wiederholen?

Sorokin: Halten wir fest, dass das Buch ein literarisches Produkt ist. Aber real betrachtet: Orwell fantasierte in seinem Buch "1984" über das Thema England und das kommunistische Regime. Wäre dies alles nicht in der Theorie auch möglich gewesen, wäre das Buch nicht so populär geworden.

Ich habe mir eine ähnliche Aufgabe gestellt: Nimmt man an, Russland beschloss, sich mittels einer Mauer von der ganzen Welt abzuschotten, was wird dann aus diesem Land? Ich nehme einige Versionen an. Meines Erachtens passiert, was zum Teil schon jetzt vor sich geht: Russlands Zukunft wird zu seiner Vergangenheit, und die Vergangenheit zu seiner Zukunft.

STANDARD: Trotzdem - wir leben unter anderen Umständen. Die Globalisierung macht auch vor Russland nicht Halt, Russlands Vermögende haben ihr Geld auf westlichen Konten. Manche Grenzen sind ja doch überwunden.

Sorokin: Ja, aber die Sache ist die: Als in Russland die Februarrevolution 1917 stattfand, glaubten alle, dass sich das Land nach westlichem Muster zu einer normalen bourgeoisen Republik mit allen Freiheiten entwickeln wird. Aber es kam anders. Und als in den 20er-Jahren die Parteigänger Lenins überzeugt waren, dass sie eine Gesellschaft schufen, die alle zufrieden stellt, so bildete sich in der Ära Stalins ein etwas anderes Regime. Russland ist eben dadurch einzigartig, dass es nicht vorhersagbar ist.

STANDARD: Wie würden Sie den Zustand von Russlands Gesellschaft beschreiben?

Sorokin: Mir scheint, wir haben einen aufgeklärten Feudalismus, multipliziert mit Hochtechnologie. Die modernen Feudalherren fahren nicht in der Kutsche, sondern im 600er Mercedes. Und das Geld bewahren sie nicht in der Truhe auf, sondern auf einer Schweizer Bank. Mental unterscheiden sie sich nicht von denen des 16. Jahrhunderts.

STANDARD: Selbst wenn die gesellschaftliche Entwicklung nun vielleicht für ein Jahrzehnt eingefroren wird. Sie haben selbst einmal gemeint, für Russland sei das kein nennenswerter Zeitraum.

Sorokin: Ja, das ist wenig. Die Sache ist die, dass es sich nicht um eine Katastrophe handelt. Russland hat immer verstanden zu überleben. Unser Volk ist lang geduldig.

STANDARD: Würden Sie das als Vorzug sehen?

Sorokin: Nun, leider hat das allen Regimen, die in Russland waren, viel geholfen. Gerade deshalb können sich diese Regime so leicht halten.

STANDARD: Glauben Sie, dass sich die heutige Staatsmacht auf lange Zeit eingerichtet hat?

Sorokin: Ich habe keine Ahnung. Man könnte lange über die negativen Züge dieser Macht reden. Aber das Traurigste ist, dass sie keine kreative langfristige Strategie hat. Das sind Leute, die ständig mit taktischen Kämpfen zwischen unterschiedlichen Machtgruppen beschäftigt sind. Dieser taktische Kampf ist ihre Strategie. Darüber hinaus interessiert sie nichts.

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Zur Person Wladimir Sorokin wurde 1955 in Moskau geboren. In der Sowjetunion war er als Schriftsteller verfemt, später stieg er zum internationalen Star der russischen Literatur auf. Berühmt wurde er durch seinen Roman "Die Schlange". Die kremlnahe Jugendgruppe "Die gemeinsam Gehenden" organisierte eine Hetzkampagne gegen ihn wegen angeblich pornografischer Tendenzen. 2005 schloss er seine "Eistrilogie" (Romane "Das Eis", "BRO" und "23.000") ab. Im Herbst erschien der Roman "Der Tag des Opritschniks", der aus der Sicht eines Leibwächters im Jahr 2027 ein System der Unterdrückung erzählt. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.12.2006)