In fast jeder Zelle der "Rüdenburg" wurden Kalender der Haftdauer auf die Mauern gekritzelt

Foto: "Jugendgericht"/Eva Würdinger

Bis zu sechs Monate verbrachten jugendliche U-Häftlinge in den Zellen. Im Schnitt waren es 72 Tage

Foto: "Jugendgericht"/Eva Schlegel
Wien – "Ob sie uns lieben oder hassen, irgendwann müssen sie uns entlassen." Die Zellenwände im ehemaligen Jugendgerichtshof in der Rüdengasse in Wien-Landstraße sind voll von Inschriften, Graffitis und anderen Botschaften früherer Insassen. "Wer hier sitzt, soll weiterschreiben", lautet eine im Verputz verewigte Aufforderung. Darunter stehen 26 Namen. Kaum ein Haftraum, in dem es keine "Tagesfresser" gibt, also Kalender, in denen jeder abgesessene Tag durchgestrichen wurde.

Unter Protest aufgelöst

Seit drei Jahren sind in dem 1928 errichteten Gefängnis keine Häftlinge mehr untergebracht, der Jugendgerichtshof wurde unter lautem Protest zahlreicher Richter und Staatsanwälte vom damaligen Justizminister Dieter Böhmdorfer aufgelöst. Vor Kurzem erst ersteigerte die Ceba AG die 6700 Quadratmeter große Immobilie um mehr als fünf Millionen Euro. Doch bevor hier nun ein "Regionalzentrum für Nahversorgung und Begegnung" entstehen soll, haben die Fotografinnen Eva Schlegel und Eva Würdinger mit ihrem Buch "Jugendgericht" (Schlebrügge.Editor) noch einen dokumentarischen Nachruf auf das Ex-Häfen verfasst. Texte von Sabine Folie, Standard-Architekturkritikerin Ute Woltron, BIG-Geschäftsführer Christoph Stadlhuber und anderen Autoren ergänzen die Fotoarbeiten.

In Wien befinden sich derzeit rund 150 Jugendliche zwischen 14 und 18 in Untersuchungshaft, die meisten davon sind in der Justizanstalt Josefstadt untergebracht. "Einem Großteil der Jugendlichen wird Raub vorgeworfen, immer öfter müssen sich auch junge Angeklagte vor einem Geschworenengericht verantworten", erklärt Gerhard Jarosch, der Sprecher der Staatsanwaltschaft Wien.

An die Wiedererrichtung eines eigenen Jugendgerichtshofes wird in der Bundeshauptstadt nicht gedacht. Justizministerin Karin Gastinger plant alle U-Häftlinge bis 21 Jahre im neuen Justizzentrum unterzubringen, das 2009 in Betrieb gehen soll. Insgesamt werden dort neben dem zweiten Straflandesgericht 545 Haftplätze geschaffen. Wie berichtet, ist das zweite "Landl" umstritten, die Mehrheit der Richter und Staatsanwälte aus dem bestehenden Landesgericht hat sich dagegen ausgesprochen. Nun hofft man, dass zumindest der Jugendstrafbereich nicht auch noch zweigeteilt wird. Eine endgültige Entscheidung soll erst in der kommenden Legislaturperiode fallen.

Löcher in der Wand

Im Buch von Eva Schlegel und Eva Würdinger wird auch das Leben hinter Gittern rekonstruiert. Immer wieder gelang es Insassen, die Zellenmauern zu den Nachbarn zu durchlöchern, so lange am Putz zu kratzen, bis die Ziegel locker wurden und herausgezogen werden konnten. Auch die Kommunikationskanäle über die Toilettenanlagen funktionierten in der "Rüdenburg": Siphon entleeren, durch das Rohr mit den im oberen oder unteren Geschoss Sitzenden reden. "Nach längerem Durchstreifen wurde mit klar, dass dieses Haus wie eine Maschine, eine eigene Welt funktionierte", meint Eva Schlegel. Die Heizungskeller, die Küche, die Werkstätten, alles wurde mithilfe der Häftlinge betrieben.

Seit drei Jahren steht der aufgelassene Jugendgerichtshof in Wien leer. Bevor das vor Kurzem versteigerte Gebäude nun umgebaut wird, haben Künstler in einem Buch den derzeitigen Zustand dokumentiert und den früheren Häfenalltag rekonstruiert. (Michael Simoner, DER STANDARD Printausgabe, 13.12.2006)