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Die Titelseiten Österrichischer Tageszeitungen am 7. September 2006, nach dem TV-Interview von Natascha Kampusch im ORF

Foto: APA/GUENTER R. ARTINGER
Die Gefangene, die Entflohene; die Verlorene, die Wiedergefundene: Natascha Kampuschs Geschichte mag für viele unerhört klingen, aber was sie tatsächlich für jedermann&frau so faszinierend macht, ist ihre abgrundtief unheimliche Dimension. Das Unheimliche – wir wissen es seit Freud – aktiviert in seiner erschreckenden Gestalt ein vertrautes Gefühl, und zu einer derart entstellten Wiederbegegnung mit einem Emotionsprogramm, das in allen Menschen unaufhörlich läuft, ist es auch im Fall Kampusch gekommen. Ihre Missbrauchsgeschichte – denn eine solche bleibt sie auf jeden Fall – hat die Struktur einer Liebesgeschichte; das heimliche Programm, das darin bis jetzt nur unbewusst rezipiert wurde, trägt den Namen „romantische Liebe“.

Ein Mensch wird eingeschlossen, alle anderen aus – das ist der harte Kern des romantischen Liebesbegriffs. Ich will nur Dich, sagt die Liebe, ich will Dich ganz für mich allein, sagt die Liebe, ich will, dass Du für immer mir gehörst! Wer so spricht, denkt nur an eines: Besitz. Wer nur an Besitz denkt, ist besessen von seinem Besitzdenken: er selbst wird zum Gefangenen seines „Schatzes“, er selbst, verfolgt von chronischer Verlustangst, sperrt sich ein in das paaranoide Wahnsystem seiner Hab- und Eifersucht. Dass die Lust am Besitz das gesamte positive Wertpotential, das die Idee der Liebe unleugbar in sich trägt, auszulöschen vermag (Sich-ergänzen-im-Anderen, Offen-Sein für das Andere, ohne es zu vereinnahmen), verwundert kaum, denn nichts folgt so sehr der herrschenden Vernunft wie Gefühle, und in einer Gesellschaft, in der ein kapitalistischer Ungeist dominiert, handelt der, der nur auf sich und sein Eigentum achtet, stets am logischsten.

Lebensgemeinschaft als Todesgemeinschaft

Unübersehbar wollte Priklopil nichts anderes als die anderen: ein Kind, eine Frau, eine Familie, ein Haus, ein Heim, eine Festung – und er wollte es, wie alle anderen auch, nur für sich allein. Die Mittel, die Priklopil angewandt hat, mögen äußerst ungewöhnlich gewesen sein, die Vorstellungen aber, die er von der Liebe im Kopf hatte, waren es mit Sicherheit nicht. Seine Idee von Liebe ist der ubiquitäre Wahn-Sinn, den fast alle Männer und Frauen mit ihm teilen: eine Lebensgemeinschaft als Todesgemeinschaft, eine Paarbeziehung als absoluter Kurzschluss zweier Menschenleben (Kampuschs Flucht war sein Tod, so wie sein Tod ihren Hungertod im Verlies bedeutet hätte). Und wer diese copula mortis begriffen hat, der muss sich nicht mehr fragen, warum Natascha Kampusch so viele Fluchtchancen ungenutzt ließ. Es ist nicht leicht, seinen Vater/Bruder/Ehemann zu töten, egal wie sehr man diesen Vater/Bruder/Ehemann – zu dem Priklopil als einzige Bezugsperson in all den Jahren geworden war – auch hassen mag.

Priklopil war kein Sadist, sondern Romantiker (oder differenzierter gesagt: er war der ehrlichste aller Romantiker, weil er den sublimen Sadismus, der in jedem Romantiker steckt, unverdrängt auslebte). Wer in seinem Keller nach blutigen Orgien fahndet, der muss sie schon selbst erfinden. Statt des strengen Kammerspiels, das so viele in ihrer Phantasie inszenieren, gibt es im Strasshofer Einfamilienhaus nur den keuschen Käfig der Eifersucht zu bestaunen, in den sich alle Liebespaare einzuschließen pflegen. Priklopil gleicht mehr dem Erzähler aus Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ als einem Sadeschen Libertin. Er war kein „Alpen-Dutroux“, kein Vergleich könnte verfehlter sein. Wäre er tatsächlich das große Ungeheuer gewesen, von dem alle phantasieren, er hätte Natascha Kampusch bald getötet und sich sein nächstes Opfer geholt. Priklopil aber hatte Lust auf Normales: er suchte eine kleine Freundin, die er sich zur Frau fürs Leben erziehen wollte. Sein Projekt ist zweifellos gescheitert, so wie fortwährend alle Projekte, die den Mann/die Frau fürs Leben suchen, am Scheitern sind, ohne dass auch nur ansatzweise die Ideologie, die dahinter steht, in Frage gestellt wird.

Schi-Urlaub

Erinnern wir uns: Schon kurz nach ihrer Flucht wurde Natascha Kampusch als Woman of the Year gehandelt, alle wollten, dass sie diese Auszeichnung bekommt, alle rechneten fest damit, doch dann gestand sie ihren gemeinsamen Schi-Urlaub, und plötzlich hatte niemand mehr Interesse daran, sie als Frau des Jahres zu präsentieren. Der stark ambivalente Charakter der Täter-Opfer-Konstellation war unübersehbar geworden, zu offensichtlich für eine Gesellschaft, die gerne alles in Achsen des Guten und des Bösen einteilt. Dass der männliche Täter vielleicht gar kein so außergewöhnliches Monster war, sondern nur sehnsüchtig der kranken Psycho-Logik einer antisozialen Gesellschaftsideologie folgte, will niemand hören, schon gar nicht auf einer großen Bühne und schon gar nicht in einer Zeit, in der die konservativen Werte wieder ins Zentrum der Politik rücken. Wenn der Präsident der USA am Beginn des 21. Jahrhunderts den Glauben an Gott, die sexuelle Enthaltsamkeit und das Funktionieren der Familie als die wichtigsten Werte der westlichen Gesellschaft postuliert, dann wiederholt er nur blind den Fundamentalismus, der ihm von seinem islamischen Feindbild in Perfektion vorgeführt wird. Die Achse der heiligen Familie verläuft mitten durch Bagdad und New York. True love can wait: Worauf denn? Auf den Tod? Auf den richtigen Partner? Auf den ersten und letzten Verführer? Auf das Haus, in das man sich gemeinsam einschließt? Auf die Enge, die darin herrscht? Auf die familiäre Gewalt, die niemand sieht, weil sie niemand sehen darf, weil sie niemanden von Außerhalb etwas angeht? Wahre Liebe kann auch leiden – immer schön still, damit es der taube Nachbar nicht hört.

Alltagskultur

Zu welcher Unmenschlichkeit es führen muss, wenn die Privatsphäre der Familie so absolut und heilig gesetzt wird, dass sie sich in einen privatrechtlichen Raum verwandelt, zeigt die Alltagskultur eines islamischen Fundamentalismus. Die Frauen: eingesperrt, verschleiert, dem öffentlichen Blick, dem gesellschaftlichen Leben entzogen, von ihren Brüdern, Vätern, Ehemännern exekutiert, falls sie es wagen fremdzugehen. Die Männer: besessen von ihrer Eifersucht, eingesperrt im Codex der Familienehre, auch sie Gefangene, gefangen in einem theo-ökonomischen Diskurs der Intimität, der Liebesbeziehungen nur als Herrschafts- und Besitzverhältnis zulässt. Jede Verführung, die innerhalb dieser ideologischen Matrix stattfindet, ist eine Entführung. Jeder Liebesakt ein Akt der Gewalt. Priklopils Tat hat aufgezeigt – und hier liegt das enorme politische Potential des Falls –, wie sehr auch der als romantisch etikettierte Liebesbegriff einer fundamentalistischen Logik folgt, wie sehr auch der abendländische Diskurs der Intimität die Sehnsucht nach der Exklusion alles Fremden, den Wunsch nach einem abgeschlossenen Raum kreiert, in dem der Einzelne allmächtig herrschen kann über Einzelne. Priklopils Tat muss als Symptom gelesen werden, symptomatisch nicht im Sinne der Psychopathia sexualis, die ihn als krankhaften Sonderfall einer gesunden Norm behandelt, sondern symptomatisch für eine Politik der Gegenwart, deren neokonservativen Kräfte gerade jene exklusive Ordnung etablieren wollen, die den öffentlichen Raum sukzessive zerstört. Im Garagenloch des Strasshofer Einfamilienhauses liegt die Wahrheit einer Politik, die aufgehört hat, sich um die gemeinsame Sache der Menschen zu kümmern. Ihr Traum vom kleinen (Liebes)Glück, das ihre Gesetzgeber verordnen, weil sie sich selbst kein größeres mehr vorstellen können, ist von Wolfgang Priklopil bloß in allen Konsequenzen zuende gedacht, mit aller Härte seiner wahnsinnigen Logik exekutiert worden.

Und wie die Geschichte so offenbart auch ihre Rezeption die katastrophalen Auswirkungen einer unheimlichen, d. h. einer sich ihrer Gewalt unbewussten Liebe: Wenn die mediale Öffentlichkeit Natascha Kampusch in ihrer traumatischen Gefühls-Ambivalenz vollkommen in Stich lässt und ihr keine Chance gibt, ihre Entführungsgeschichte als entstellte Liebesgeschichte zu thematisieren, dann wird sie zum zweiten Mal Opfer, dann wiederholt sich an ihr der ideologische Missbrauch einer patriarchalisch-neofundamentalistischen Gesellschaft, die sich grundsätzlich jedes Wissen und jede Aufklärung über die Liebes-Ökonomie ihres Unbewussten, über die Struktur der selbstzerstörerischen Garagenlochintimität versagt.