Kennen Sie den noch? Da ruft ein Mann bei Radio Eriwan an und fragt, ob die Zukunft tatsächlich vorhersehbar sei. Antwort: "Im Prinzip ja. Wir wissen genau, wie die Zukunft aussieht. Aber wir haben ein Problem mit der Vergangenheit. Sie verändert sich ständig." Es sind Bonmots wie dieses, die einst halfen, den Sowjetmarxismus erträglicher zu machen. Eine Gesellschaft, die jegliche Historie nach den Rezepten eines "wissenschaftlichen Sozialismus" zusammenrührte, um daraus den Kaffeesatz für eine schönere Zukunft zu manschen, war eben eigentlich nicht mehr als lächerlich. Doch nicht nur totalitäre Regime haben in der Vergangenheit versucht, die Geschichte Europas in das Koordinatensystem von Gegenwart und Zukunft zu pressen. Der Wunsch, aus überlieferten Histörchen einen überzeitlichen Mythos zu kreieren, ist immer groß gewesen.

Europa ohne Vergangenheit

Selbst heute, im Europa der EU, hat sich daran nichts geändert. Wer etwa eine Erklärung für das europäische Sozialstaatsmodell oder für die Entmilitarisierung der Außenpolitik sucht, der beschwört lieber "europäische Wesensarten", als dass er sich einmal die Mühe machte, im Geschichtsbuch nachzuschlagen. Auch in Brüssel erzählt man eben gerne Legenden; zuweilen mit üblen Folgen: Als etwa der Europäische Rat Ende 2001 einen "Konvent zur Zukunft Europas" für die Ausarbeitung einer gemeinsamen Verfassung berief, da brauchte es nicht viel, damit bei kritischen Beobachtern erneut die Stimme von Radio Eriwan hörbar wurde. Wieder einmal wusste Europa, wo es hingehen sollte, noch bevor es überhaupt ahnte, wo es herkam.

Besser wäre es gewesen, die EU hätte sich für ihre Pläne noch vier Jahre Zeit gelassen. So lange sollte es noch dauern, bis der Geschichtswissenschafter Tony Judt, unter dem Titel Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart ein bis dato unvergleichliches Buchprojekt zum Abschluss bringen konnte. Nun liegt dieses über tausend Seiten umfassende Werk auf Deutsch vor. Darin versammelt: nahezu alle Antworten auf die großen europä-ischen Fragen. In einem weit gespannten Bogen beschreibt Judt, wie der europäische Kontinent mit seinen 5,5 Millionen Quadratkilometern, seinen 46 Ländern und seinen unzähligen Erinnerungen einst wurde, was er heute ist.

Ende einer Ära

Die Idee zu dieser ersten Gesamtdarstellung europäischer Geschichte kam Judt im Dezember 1989. Wie viele seiner Zeitgenossen spürte der in London geborene Historiker, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhangs eine Ära zu Ende gegangen war. Das Nachkriegseuropa, einst auf der Konferenz von Jalta ersonnen, war über Nacht verschwunden. "Jede Zeit ist eine Sphinx", so hat es Heinrich Heine einmal formuliert. Sobald man ihr Rätsel gelöst hat, stürzt sie sich in den Abgrund. Auch wenn 1989 niemand ahnen konnte, wie es mit der Alten Welt weitergehen sollte, für Momente hatte es tatsächlich den Anschein, als wäre das Rätsel Europas für immer entschlüsselt worden. Die Optimisten warteten nur noch auf einen geduldigen Wissenschafter, der diese Lösung zu Papier bringen konnte.

Tony Judt war da genau der Richtige. Er brachte nicht nur die Ausdauer für ein solches Projekt mit, sondern zudem beeindruckendes Detailwissen. Ohne genaue Kenntnisse über die Geschichte der europäischen Einzelstaaten wäre diese umfassende historische Zusammenschau nicht möglich gewesen. Zudem ist der ehrgeizige Historiker von Anfang an bemüht gewesen, auch die Folgen der Zäsur von '89 mit in seiner Darstellung zu berücksichtigen. Noch während Judt schrieb, ging der Geschichtsverlauf weiter. Europa vollendete sein tragischstes Jahrhundert, und sein Chronist hechelte stets hinterher. Wenn er etwa die Folgen der Balkankriege oder den Prozess der EU-Osterweiterung schildert, dann kommen Geschichte und Geschichtsschreibung nahezu zur Deckung.

Kleine Häppchen

Gelingen kann diese Mammutunternehmung nur, da Judt sechzig Jahre europäisches Werden in verdauliche Einzelhäppchen unterteilt. Einmal geht er der Frage nach, wie sich das Modell der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten auf die Ära der westlichen Sozialdemokratie niedergeschlagen hat, einmal untersucht er die unterschiedlichen Erinnerungskulturen an die NS-Vernichtungspolitik. Auffällig dabei ist, wie souverän der 1948 geborene Historiker auf all diesen Forschungsgebieten brilliert.

Ob die Wirtschaftsordnung von Bretton Woods oder die Filme der "Nouvelle Vague", ob der Terror der Stadt-Guerilleros oder italienisches Design: Nichts scheint Tony Judt zu gering, als dass es nicht seinen angestammten Platz im europäischen Haus gefunden hätte. Stets verweist in diesem Buch das Kleine auf das Große: auf die alles entscheidende Frage, wie sich ein Kontinent, auf dem eben noch der Gestank von Tod und Verwesung dominierte, in einen Staatenbund verwandeln konnte, der heute auf einzigartige Weise postnational, sozialstaatlich und friedfertig ist. Wer immer die alten Nationalgeschichten überwinden und eine gemeinsame Geschichte Europas schreiben will, der kommt um diese Fragestellung nicht herum.

Folgt man Tony Judt, dann ist das, was 1952 aus dem Pariser Vertrag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl erwuchs und was man heute das "europäische Gesellschaftsmodell" nennt, nicht in einem einzigen heroischen Akt entstanden.

Das moderne Europa ist vielmehr ein mühsam von Menschenhand geschaffenes Werk. Für einen Historiker ist Geschichte eben kein Mythos, sie ist ein Beitrag zur "Ernüchterung der Welt". Europa, als Tochter des Agenor einst hervorgegangen aus den großen Erzählungen des Altertums, wirkt in Judts glänzender Historiografie schmucklos und unpoetisch. Die Frau, die Zeus einst in Gestalt eines Stieres entführte, ist in diesem Buch in ihr angestammtes menschliches Umfeld zurückgekehrt. Ein Glücksfall! Denn nur ein Europa mit menschlichen Zügen wird auch weiterhin eine Zukunft haben. (DER STANDARD Printausgabe, 16./17.12.2006)