New York/London/Paris - Die internationale Presse kommentiert am Mittwoch die Todesurteile gegen fünf bulgarische Krankenschwestern und einen palästinensischen Arzt in Libyen, die in einem Krankenhaus in Bengasi Kinder mit dem Aids-Virus infiziert haben sollen:
  • "Wall Street Journal" (New York):

    "In einem Versuch der Gesichtswahrung hat Gaddafi eine außergerichtliche Einigung angeboten und zehn Millionen Dollar für jedes infizierte Kind gefordert, um die sechs Angeklagten freizulassen. Das ist zufällig genau die gleiche Summe, die Gaddafi zu zahlen bereit war für jede Familie der Opfer des PanAm-Fluges, den seine Agenten 1988 über Lockerbie mit einer Bombe zum Absturz brachten. Die bulgarische Regierung lehnte diese Erpressung ab. Ein Lösegeld von über vier Milliarden Dollar zu zahlen ist schwierig für das kleine Bulgarien, es wäre ein indirektes Schuldeingeständnis und - am allerschlimmsten - würde diese Unschuldigen auf eine Stufe mit dem Terrorismus des Gaddafi-Regimes stellen.

    Gaddafi kam ein Stück weit aus der Kälte, nachdem er den Sturz von Saddam in Bagdad beobachtet hatte. Im Gegenzug für die Aufgabe seiner nuklearen und terroristischen Ambitionen konnte der Libyer die Handels- und diplomatischen Beziehungen zu den USA wiederherstellen. Jetzt könnte der Zeitpunkt gekommen sein, ihn daran zu erinnern, dass die Bedingungen seiner Resozialisierung auch widerrufen werden können."

  • "Times" (London):

    "Der Westen hatte gehofft, dass mit Libyens Aufgabe seiner Massenvernichtungswaffen der Weg für eine rasche Normalisierung der Beziehungen und einen Aufschwung bei Investitionen und Kulturaustausch möglich wäre. Diese voreiligen Hoffnungen wurden nun zerstört. Bürokratie, Beharrungsvermögen und das Ruhekissen des Ölreichtums haben die meisten Versuche von politischen und wirtschaftlichen Reformen zunichte gemacht. Die westliche Frustration entspricht den unrealistischen Erwartungen Libyens und der anschließenden Desillusionierung. Dieser Fall zeigt, dass die Rehabilitierung Libyens weder schnell noch schmerzfrei vonstatten gehen wird."

  • "Libération" (Paris):

    "Dieses Todesurteil gegen die seit 1999 inhaftierten Ausländer ist ein empörender Akt des Zynismus, wenn man weiß, dass die betroffenen Kinder, um die es geht, bereits vor der Ankunft des medizinischen Teams in Libyen mit Aids infiziert gewesen waren. Das ist der Gipfel eines Regimes, das eine voll besetzte DC-10 (der französischen Fluggesellschaft UTA über Niger) in die Luft gesprengt und sich dann noch gut aus der Affäre gezogen hat.

    Diese Ausländer jetzt nicht schuldig zu sprechen, vorsätzlich das Aids-Virus eingeschleppt zu haben, hätte allerdings bedeutet, die Fehler der eigenen Behörden in dieser Tragödie einzuräumen. Ein Fremder ist da ein guter Sündenbock, auch wenn das die in den vergangenen Jahren von Tripolis eingeleitete Politik der Annäherung an den Westen in Frage stellen muss."

  • "La Croix" (Paris):

    "Zweifellos wollte es das Gericht Muammar al-Gaddafi überlassen, eine ehrenwerte Lösung über den Weg der 'Begnadigung' zu finden. Der Verlauf des Prozesses gegen die fünf Bulgarinnen und den palästinensischen Arzt, die Anwendung der Folter gegen die Angeklagten und die Missachtung der Rechte der Verteidigung sind allerdings ein Schlag gegen die Bemühungen Libyens, das internationale Vertrauen wiederzugewinnen. Es dürfte doch schwierig sein, dem Obersten Gaddafi Vertrauen entgegenzubringen, dem Mann also, der sich so lange als ein eingeschworener Feind der westlichen Demokratien gezeigt hat."

  • "Corriere della Sera" (Mailand):

    "Was haben Oberst Gaddafi, der südafrikanische Präsident Mbeki, die Stasi aus der DDR sowie einige radikale Islamisten und ägyptische Scheichs gemeinsam? Sie glauben oder haben geglaubt, dass das Aids-Virus im Labor eines feindlichen Geheimdienstes produziert wurde. Und wer soll das getan haben? Da geben sie wiederum verschiedene Antworten: Vom amerikanischen CIA bis zum israelischen Mossad. Und mit welchem Ziel? Um 'die Schwarzen und die Hispanics umzubringen', um 'die arabische Gesellschaft zu zerstören', um 'Zentralafrika zu infizieren'.

    Auch der Fall der bulgarischen Krankenschwestern und der Aids-Fälle in Libyen konnte dem Phänomen eines solchen großen Komplotts nicht entkommen. Weil in Tripolis wie in Kairo der Boden vorbereitet war durch eine schädliche Propaganda, die auf systematische Art vorbereitet wurde, und zwar von solchen Kräften, die entweder wirklich daran glauben oder die dies aus einem Interessenkalkül heraus tun."

  • "La Repubblica" (Rom):

    "Die Gegend um Bengasi liegt in der Nähe der ägyptischen Grenze und sie ist nicht immun gegen Infiltrationen durch radikale islamische Organisationen wie etwa die Muslimbruderschaften aus Ägypten. Dies mag erklären, warum der Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi die These eines ausländischen Komplotts bestätigt wissen wollte und ein 'exemplarisches' Urteil gefordert hat, das in der Lage wäre, die Gemüter zu beruhigen.

    Dies kann aber zugleich die Starrköpfigkeit des Gerichts erklären, in dieser Angelegenheit eine gegen Ausländer gerichtete Vendetta zu verfolgen, die dabei zugleich eine raffinierte Form des Drucks auf die Zentralregierung in Tripolis darstellt. Es gibt nämlich keinen Zweifel daran, dass die Angelegenheit der bulgarischen Krankenschwestern für das libysche Regime nunmehr zu einer ernsthaften Peinlichkeit auf internationaler Ebene geworden ist."

  • "Neue Zürcher Zeitung":

    "Nicht nur als Rückschritt, sondern geradezu als Schlag ins Gesicht muss die Europäische Union das Todesurteil vom Dienstag empfinden. Die EU unterstützt seit letztem Jahr im Rahmen eines kostspieligen Aktionsplans den libyschen Gesundheitsdienst bei dessen Bemühungen, die Aids-Epidemie in den Griff zu bekommen. (...)

    Das Terrorurteil gegen die Bulgarinnen und den Palästinenser zeigt, dass sich der Revolutionsführer Gaddafi und sein Machtzirkel außerordentlich schwer damit tun, Verantwortung zu übernehmen und der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken, auch über eigene Versäumnisse und Fehler. Mit Sündenböcken und Ablenkungsmanövern werden sich aber zur Mündigkeit erwachte Bürger nicht zufrieden geben."

  • "Tages-Anzeiger" (Zürich):

    "Kaffeesatzlesen ist ein leichtes Unterfangen, verglichen mit dem Versuch, die nächsten Schachzüge von Libyens Oberst Gaddafi vorauszusagen. Unberechenbarkeit gehört zu den wichtigsten Konstanten seiner Entscheidungen. (...) Auch ohne Exekutionen bleibt der HIV-Skandal von Benghazi aber ein Lehrstück über den despotischen Herrscher. Gaddafi hat sechs unschuldige Gastarbeiter zu politischen Geiseln gemacht. Sie wurden gefoltert und müssen seit Jahren um ihr Leben fürchten.

    Er hat demonstriert, was vom Justizsystem zu halten ist, und spielt ein tödliches Spiel mit der Gesundheit der Libyer, wenn er die Gefahren der HIV-Ansteckung in seinen Spitälern herunterspielt. Auch ohne Massenvernichtungswaffen bleibt der Oberst ein Diktator, und das bekommt vor allem die eigene Bevölkerung täglich zu spüren."

  • "Dnewnik" (Sofia):

    "Libyen braucht ein Druckinstrument nicht so sehr für Bulgarien, sondern für andere Teile der Welt. Und nur Todesurteile und nicht irgendwelche anderen Strafen können die Waffen für diesen Druck sein. Nachdem alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft hat, ist die Zeit gekommen, klar zu erklären, dass Bulgarien es nicht zulassen wird, mit Bedingungen erpresst zu werden, die nicht nur auf Sofia sondern auch auf die Europäische Union und die USA abzielen. Der Westen hat seine Hebel und seinen Einfluss, und sollte Gaddafi wirklich etwas von ihm wollen, wer sonst als der Westen könnte ihm eine angemessene Antwort geben?"

  • "Nepszabadsag" (Ungarn):

    "Der libysche Diktator Gaddafi hat es offenbar freudig aufgenommen, dass ihn die EU nach seinem Entschädigungsangebot in der Folge des Lockerbie-Urteils und nach seiner Unterschrift unter das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag als pflegeleichtes Lamm zu wähnen begann. Dabei ist der Besuch Romano Prodis, den dieser vor zwei Jahren noch in seiner Eigenschaft als Präsident der EU-Kommission dem Diktator in dessen Zelt in der Wüste von Syrte abgestattet hatte, im Lichte dieser Todesurteile im Nachhinein kaum zu entschuldigen. Doch wenn er schon einmal zu Gaddafi gepilgert ist, möge er noch ein weiteres Mal - diesmal als italienischer Regierungschef - zu ihm pilgern! Sechs Menschenleben stehen auf dem Spiel."

    (APA/dpa)