Theo, konzentriert bei der Arbeit an einem Wiener Schnitzel im Gasthaus "Zum Merkur". Das Bier (links im Bild) gehört nicht ihm, sondern seinem Leibfotografen, der jedes Jahr zur gleichen Zeit die Kamera auf ihn richtet.

Foto: DER STANDARD/Christian Fischer
"Wir könnten Leute aus meiner Umgebung zu meiner Person befragen", meinte Theo per Mail schon im November. Zum Beispiel seine Bibliothekarin und seine Cousine.

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Für Theo war es wieder einmal ein gelungenes Jahr. Mit den großen drei "Auf" der Alltagswidrigkeiten – Aufstehen, Aufräumen, Aufgaben machen – kommt er gut zurecht. Die Schule sekkiert ihn vergleichsweise wenig. Hin und wieder verpatzt er eine Mathe-Schularbeit. Da steht dann unten "Gut" statt "Sehr gut", wie man es von Theo eigentlich gewohnt ist. Er selbst hat sich jedenfalls so sehr daran gewöhnt, dass ihn so ein karges "Gut" kurzzeitig in Weltuntergangsstimmung versetzen kann. Ach, es ist schon ein Phänomen mit diesen Vorzugsschülern. Die ahnen gar nicht, wie befriedigend "Genügend" sein kann, wie viel besser als "Sehr gut" man sich fühlt, wenn eine Arbeit einmal völlig überraschend positiv bewertet wurde.

Um die üblen Dinge rasch abzuhaken – ein paar Worte zu Theos Gesundheit. Wenn er, wie glücklicherweise fast immer, gesund ist, ist er gesünder als die meisten seiner Mitbürger. Wenn er krank ist, ist er so gut wie tot. Leider bemerkt das keiner. Erst vor ein paar Tagen hat der vermutlich brutalste Grippevirenstamm alle Mitglieder versammelt und einstimmig beschlossen, Theo heimzusuchen. Das ergab: Kopfweh, Halsweh, Fieber. Wie reagierten die Eltern? Sie gaben ihm ein mickriges Pulver, verordneten ihm Bettruhe und sagten, so schlimm sei es nicht, er werde durchkommen. Damit ließ er sich nicht abspeisen, er kämpfte um das Recht des Patienten auf medizinische Grundversorgung. "Ich will zu einem Arzt!", wimmerte er. "Theo, ich bin Ärztin!", versicherte die Mutter. "Zu einem anständigen Arzt!", bettelte Theo, "einem, der mich ernst nimmt, wenn ich krank bin!"

Schlecht behandelt wird Theo mitunter auch beim Spielen. "Zug um Zug" war immerhin zum Spiel des Jahres gewählt worden. Es kann vom Erfinder nicht geplant gewesen sein, dass sich da Spieldilettanten wie Onkel Michi durchsetzen und Menschen mit Spürsinn, Überblick und strategischen Fähigkeiten (wie Theo) weniger Punkte zusammenkriegen. Theo ist wirklich kein schlechter Verlierer, aber wenn ein Brettspiel nicht begreift und sich nicht danach richtet, dass Theo es einfach besser können muss als unkonzentrierte Erwachsene, die sich dazu auch noch den Kopf mit alkoholischen Getränken eintrüben, dann bedarf es schon einmal einer (alle Spielfiguren) wegwischenden Handbewegung quer über das Brett. Dann muss eben neu angefangen werden, bis der wahre Sieger ermittelt ist: Theo.

Was machen die Mädchen?

Um die Unannehmlichkeiten 2007 abzuschließen: Mädchen. Ja, Theo ist in die teuflische Und-was-machen-die-Mädchen-Phase geraten (die etwa bis ins Alter von 25 andauern wird). Es geht dabei keineswegs darum, was die Mädchen wirklich machen, das ist Theo nämlich so was von dermaßen egal, wie er es gar nicht formulieren könnte, würde er Zeit dafür opfern. Jeder Mensch mittleren Alters, der mit Theo ein paar Worte wechselt, wühlt plötzlich in seinem Privatleben, maßt sich an, seine versteckten Leidenschaften zu erkennen und fragt unverschämt offen und immer aufs Neue: "Na, Theo, und was machen die Mädchen?" – Dazu infantiles Grinsen und geheimnisumwittertes Augengezwinkere. Was haben sie nur alle mit den Mädchen? Theo hat noch nichts Spannendes an ihnen entdecken können. Buben führen ihr Leben (Sport und Abenteuer), Mädchen führen ihr Leben (Pferdefotos und Starmania). Es gibt keinen Grund, diese beiden Welten krampfhaft zusammenzuführen. Deshalb hat sich Theo eine Antwort zurechtgelegt, die das Thema schon im Ansatz beendet. Was die Mädchen machen? – "Da musst du die Mädchen fragen."

Kommen wir zu Erfreulicherem. Zum Beispiel zum jährlichen Theo-Porträt hier im STANDARD. Dieses hat (wie schon im Vorjahr und Vorvorjahr berichtet) den Sinn, zu beweisen, dass jedes Jahr schneller vergeht als das jeweils vorangegangene. Zu diesem Zweck wird Theo öffentlich exklusiv für alle Leserinnen und Leser immer ein Jahr älter. Natürlich: Je schneller die Jahre vergehen, desto weniger Zeit bleibt Theo, sich zu verändern. Ohne Veränderung freilich schaut Journalismus alt aus. Deshalb mussten wir uns heuer etwas einfallen lassen. Ich machte den ersten Schritt und schrieb Theo bereits am 20. November folgende E-Mail: "Lieber Theo, hast du schon eine Ahnung, worüber wir heuer berichten wollen?" Einen Tag später erbarmte er sich und antwortete:"Ich habe darüber nachgedacht, was 'wir' für eine neue Geschichte schreiben könnten, viel ist mir noch nicht eingefallen. (Ich dachte übrigens, das ist deine Arbeit!) Wir könnten ein paar Leute aus meiner Umgebung zu meiner Person befragen. (Die Mama will unbedingt die Bibliothekarin aus meiner Bibliothek.) Die Fragen musst aber du dir ausdenken! Die andere Hälfte könnten wir mit einem ganz normalen Interview mit mir füllen. Liebe Grüße, Theo."

Leuchtende Augen bei der Bibliothekarin

Okay, die Bibliothekarin hab ich natürlich sofort besucht, damit die Mama stolz sein kann: Linzer Straße 309, die kleinste Bücherei Wiens. Die entzückende Leiterin hat beim Namen Theo gleich leuchtende Augen bekommen. Er ist einer ihrer Lieblinge. Natürlich, Theo hat das im Blut, ein Liebling zu sein. (Daher auch die berechtigte Frage, was die Mädchen machen.) "Theo war einer der Bravsten", sagt die Bibliothekarin. Unmengen an Kinderliteratur habe er verschlungen, ganz still sei er im Eck gesessen und habe geschmökert, während herkömmliche Schüler die Regale leerten und Büchermassaker veranstalteten.

Nach so viel Lob war ein relativierendes Gespräch mit Theos 17-jähriger Cousine Nadine, einer begnadeten Menschenbeobachterin, notwendig. Was Nadine an Theo beeindruckt? "Dass man in diesem Alter schon so gscheit sein kann." Und was ihr an ihm am meisten auf den Geist geht? Da muss sie lange nachdenken. (Ehrlich, Theo!) "Na ja, er ist manchmal ein bisschen unhöflich." Konkret: Wenn man ihn anspricht, heißt das noch lange nicht, dass er sich angesprochen fühlt. Er hört einfach weg. Und wenn er nicht weghören kann, dann schaut er eben weg. Und wenn er nicht wegschauen kann, dann geht er eben weg. Kurzum: Er redet zwar mit jedem, aber nicht immer – und auch nicht immer öfter, sondern genau dann, wann er will. "Nadine, ein paar Worte zu Theos Musikalität?" – (Sie schmunzelt.) "Darüber sollten wir vielleicht ein andermal reden." Nein, so schlimm ist es nicht: Wenn er sich wo anhalten kann, zum Beispiel an seiner Ziehharmonika, dann trifft er auch die Töne, oft sogar auf Anhieb die richtigen.

Ein Blick in die Zukunft: "Nadine, wie stellst du dir Theo vor, wenn er 50 Jahre alt ist?" – "Körperlich fit", schätzt sie, "geistig rege, ehrgeizig. Wahrscheinlich Geschäftsmann, der schon viel Geld gemacht hat. Ordentlicher Lebenswandel, kein Suchtmensch." Einzige Gefahr, dass er auf die schiefe Bahn geraten könnte: "Wenn er die Fußballkarriere einschlägt." (Frechheit eigentlich. Mauerbach-Mittelfeldmotor Theo, beweise es deiner Cousine!) Ob Nadine zuletzt vielleicht noch ein besonderes Geschehnis rund um Theo einfällt? – Da bleibt sie gleich beim Fußball und erinnert an ein aufgeheiztes Familienturnier im Hochsommer 2005. Gegen Ende kam es zum Eklat. Theos Vater, an sich Psychologe, aber diesmal leider Schiedsrichter, zeigte nach einer Stocherei im Strafraum seinem eigenen Sohn Theo vor den Augen der verdutzten Fans die rote Karte. Theo stürmte auf ihn zu, sah ihm ins Gesicht, verabreichte ihm ein paar Blicke des Inhalts "Du bist nicht mehr mein Vater", drehte sich um und spielte weiter, als wäre nichts gewesen.

Skiurlaub

Ich selbst möchte zu Theo eine erstaunliche Begebenheit anfügen, die sich im Februar auf einer zünftigen Hütte in den prächtigen Bergen der Alta Badia in Südtirol zutrug, wo wir gemeinsam Skiurlaub zelebrierten – die einen lieber in geheizten Räumen, der andere (Theo) ausschließlich auf der Piste, vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit. Nach dieser Woche musste Skibesessenheit neu definiert werden. Am liebsten wäre Theo in voller Ausrüstung und mit angeschnallten Skiern schlafen gegangen, um in der Früh nicht kostbare Zehntelsekunden Fahrzeit zu versäumen. Auf besagter Hütte nun bahrten wir zu Mittag unsere müden Knochen auf. Nur einer rebellierte: Theo. Er könne und wolle nicht einfach so sinnlos dasitzen und Spaghetti essen, während draußen die Gondeln und Sessellifte herumschwirrten, meinte er. "Wenn du dich unbedingt bewegen willst, dann dreh ein paar Runden um die Hütte", sprach da die Mutter. Zwischenfrage: Was denken Sie, wenn Sie solche Sätze hören? – Richtig, es ist der Humor von Erwachsenen, die Kinder mit völlig hirnrissigen Alternativen zu verordneten Tätigkeiten (in diesem Fall zur Mittagspause in der Skihütte) nötigen wollen.

Was aber machte Theo? Sein Mund krümmte sich nach unten, sein Blick verdunkelte sich. "Gut!", sagte er mit Todesverachtung, verließ die Hütte, schnallte seine Skier an und begann, das Gebäude zu umkreisen, einmal, zweimal, dreimal. Immer, wenn er beim Fenster vorbeikam, sahen wir ihn, keuchend, mit hochrotem Gesicht, aber bereit, die Herausforderung des Schicksals anzunehmen. Das löste eine Welle des Mitleids aus. An den Nachbartischen wurde bereits gemurmelt, kinderfreundliche Italiener schielten argwöhnisch zu uns hinüber. Nach einer halben Stunde – Theo muss etwa in Runde 65 gewesen sein – beendeten wir das grausame Spiel, erlösten Theo und gingen mit ihm Ski fahren, bis in die tiefe Nacht. (Daniel Glattauer, DER STANDARD/ALBUM, Printausgabe, 23./24./25./26. Dezember 2006)