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Bagdad, 29. Jänner 2006: Das tägliche Sterben - ein Schiite beklagt den Tod seines Bruders, der von Rebellen ermordet wurde.

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Afghanistan, 20. Juni 2006: Internationale Truppen auf krisengeschütteltem Boden - britischer Soldat in Afghanistan.

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Libanon, 20. Juli 2006: Luftangriffe im Südlibanon. Der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel dauert vom 12. Juli bis zum 14. August 2006.

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Israel, 13. August 2006: Hisbollah-Raketen treffen Haifa. Opferbilanz: 43 Zivilisten, 119 Soldaten. Im Libanon starben mehr als 1000 Menschen.

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Das Jahr 2006 brachte ein dramatisches Abrutschen der Lage im Irak. Die Furcht vor dem totalen Chaos in einer bereits von Konflikten gezeichneten Region geht um - von Gudrun Harrer.

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Als ich ihm von den Skorpionen erzählte, wollte es der Freund – der ganz in der Nähe, jenseits der Mauer in der Roten Zone, gewohnt hatte, jetzt lebt er längst nicht mehr in Bagdad – zuerst nicht glauben. Sein Leben lang habe er keinen Skorpion gesehen dort, und diese tödlichen Arten gebe es überhaupt nur in der Wüste. Es scheint, als hätten sich die Pforten der Hölle geöffnet, die nun ihre abscheulichsten Kreaturen ausspuckt.

Ein anderer Freund erinnert an den alten babylonischen Mythos, nach dem das Land zwischen den beiden Flüssen einmal von Dämonen beherrscht war. Gewalt und Verheerung, Armut und Verzweiflung breiteten sich aus. Die Dämonen Babylons sind wiedergekehrt. Es ist nicht nur die Gewalt selbst, es ist ihre Perfidie.

Sterben alleine genügt nicht. Es gibt beinahe keine unversehrten Leichen im Irak. Bei den Menschen, die in die Luft gesprengt werden, geht es wenigstens schnell. Anders bei denjenigen, denen die Haut abgezogen wird bei lebendigem Leib, oder denen mit den Bohrlöchern und den Nägeln im Kopf, denen mit den fehlenden Gliedmaßen. Dutzende täglich.

Das Jahr 2006 hat auch jene Apologeten der US-Invasion zum Schweigen gebracht, die auf die Schreckensherrschaft unter Saddam Hussein zu verweisen pflegten. Wie viele Tote es auch immer sind seit dem März 2003, als die US-Armee den Irak befreite: Um Saddams Opferzahl zu erreichen, wird man diesmal keine dreißig Jahre brauchen.

Ja, das ist ein reichlich brutaler Einstieg in eine Analyse des Zustands des Nahen und Mittleren Ostens. Aber man muss aussprechen, wie dieser Konflikt im Irak aussieht, der die Schlagzeilen des Jahres 2006 dominiert hat und den man aus politischen Gründen nicht Bürgerkrieg nennen will (während das Wort gerade eben in Bezug auf die Palästinenser viel leichter von den Lippen geht).

Denn der Diskurs um den Irak dreht sich nie um den Irak selbst, sondern immer wieder nur um die USA. Eine gutartige Erklärung dafür könnte lauten, dass niemand die Komplexität dessen, was im Irak vor sich geht, versteht, es bleibt unbeschreibbar und daher unbeschrieben. Der britisch-irakische Soziologe Faleh A. Jabar hat an dieser Stelle vor ein paar Jahren davon gesprochen, dass wir die Konflikte, die in einem Post-Saddam-Irak ausbrechen könnten, teilweise nicht einmal als solche erkennen werden, in ihren Verflechtungen und Parallelitäten.

Was der Konfliktregion Naher und Mittlerer Osten so Angst macht, und zu Recht, ist, dass die im Irak vorhandenen Bruchlinien, entlang derer sich die Abgründe auftun, die die Menschen verschlingen, auch in anderen Ländern vorhanden sind: zwischen Ethnien, islamischen Sekten, Religionen, zwischen quietistisch-islamisch und politisch-islamisch, Arm und Reich, Mittelschicht und Unterschicht, zwischen Stadt und Land, zwischen Stämmen, Clans und Familien, zwischen den kriminellen Gruppen. Sie alle bewegen sich in den übernationalen Spannungsfeldern: Iraner und Araber, Araber und Türken, Türken und Kurden, Kurden und Araber etc.

Dazu kommt eine panislamische (eigentlich pansunnitische) extremistische Bewegung, die sich nicht zuletzt aus dem Schicksal des Irak – und dem israelisch-palästinensischen Konflikt – legitimiert und überall dort festsetzt, wo die Gesellschaften zu schwach sind, sie abzuwehren. Und das sind sie durch die Bank. Über die Präsenz von Al-Kaida in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon wird kaum gesprochen, wir werden noch davon hören. Aber vielleicht hat ja jemand die abstruse Idee, dass sie dazu gut sein könnte, der schiitischen Hisbollah im Land den Garaus zu machen. Gewalt und Extremismus werden in dieser Region immer mit Gewalt und Extremismus zu kurieren versucht und gebären immer wieder nur Gewalt und Extremismus.

Zurück zum Irak. In allen Brainstormings wird der Irak-Konflikt als der akut gefährlichste bezeichnet (so wie der israelisch-palästinensische als der grundlegendste). Aber niemand hat genaue Vorstellungen darüber, was passieren wird, wenn nicht doch noch die Wende geschafft wird. Ein Zerfall, der auch die Zentrifugalkräfte in anderen Ländern beschleunigt? Das irakische Territorium könnte so aussehen: Ein Kurdenstaat im Norden, der größte Mühe haben wird, seine sich erst in Entwicklung befindlichen demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen zu bewahren, bei den Attacken aller Art, denen er von außen ausgesetzt sein würde, vielleicht auch von der Türkei, falls dieser die europäische Perspektive genommen wird.

Ein schiitisch-islamischer Staat im Süden, von den sunnitischen Nachbarn geschnitten und deshalb iranischer Unterstützung auf Gedeih und Verderben ausgeliefert, mit einander bekämpfenden schiitischen Gruppen und Ölmafias, was dazu führen wird, dass sich die erschöpfte Bevölkerung am Ende für die religiös rigideste Richtung entscheidet, die Iran libertinär aussehen lassen wird. Ein sunnitisch-islamistischer Staat von Taliban-Zuschnitt im Zentrum, mit einer prämodernen Stammesgesellschaft im Westirak, der nur durch Unterstützung von außen überleben wird – aber diese wird er in dieser Konstellation, als Rest der historischen sunnitischen Dominanz im Zweistromland, zweifellos bekommen.

Und Bagdad, Medinat as-Salam, die Stadt des Friedens, die aufgrund der historischen Besiedlung – das sunnitische Stadtviertel Adhamiya im schiitischen Nordosten, das schiitische Kadhimiya im sunnitischen Westen, in der Mitte das hoffnungslos gemischte Karkh – eigentlich nicht teilbar ist? Geografisch läge sie im Sunnitengebiet, aber sie hat heute eine schiitische Mehrheit, die Kalifenstadt, welche Schmach für die sunnitische Welt. Offensichtlich glauben beide, Sunniten und Schiiten, noch immer, dass sie Bagdad allein für sich haben können, und solange sie das glauben, werden sie fortfahren, einander umzubringen.

Denkbar ist für den Irak aber auch ein Szenario à la Somalia: eine vielleicht international anerkannte Regierung, von deren Mitgliedern niemand mehr die Namen weiß. Sie befindet sich im Dauerangriff von Warlords, die sich wahrscheinlich islamistisch definieren, in Wahrheit jedoch vor allem politisch-kriminell motiviert sind, eine lokale Verankerung in der Bevölkerung und Zugang zu Geld (Ölkriminalität) haben und dadurch in der Lage sind, Milizen zu halten. Die Nachbarn intervenieren indirekt oder vielleicht auch direkt für ihre Klientel im Land. Auch in diesem Fall würde sich Kurdistan wahrscheinlich aus dem Irak verabschieden, die Grenzen dicht machen, um einen „overspill“, ein Überschwappen, zu vermeiden. Um Kirkuk würde gekämpft, aber niemand im Irak hat eine Armee wie die kurdischen Peshmerga.

Dafür würden die „anderen“ aus der arabischen Welt unterstützt. Overspill – ein Angstwort: Saudi-Arabien baut eine Mauer an der Grenze zum Irak, die kuwaitische besteht zum Teil bereits. Vielleicht gelingt es ja den Golfstaaten, sich mit ihren diversen Minderheiten einzusperren, denen es aber wohl nicht sehr gut ergehen würde: lauter potenzielle fünfte Kolonnen.

Spiegelbildlich ist es in Syrien, wo die alawitische Minderheit an den Schalthebeln der Macht sitzt und der Hass auf sie den sunnitisch-extremistischen Untergrund nährt. Wieder anders im Libanon, wo der schiitische demografische Druck das Proporzsystem, das nach dem Bürgerkrieg eine Zeit lang gut funktioniert hat, korrodiert, ohne dass ein Entwurf für eine andere Machtaufteilung existiert. Der Legitimationsschub, den die schiitische Hisbollah durch den Krieg mit Israel in der ganzen islamischen Welt erhalten hat – da verzeiht man ihnen sogar, dass sie Schiiten sind –, macht die Sache nicht leichter.

Das mittelöstliche Annus horribilis 2006 hat auch eine Wiederholung altbekannter Stellvertretermuster gesehen: Israel kämpfte im Libanon nicht gegen den Libanon, sondern gegen die Hisbollah (mit beträchtlichem libanesischen „Kollateralschaden“), aber auch in Palästina nicht mehr gegen die Palästinenser, sondern gegen die Hamas – und in beiden Fällen gegen Syrien und Iran.

Damit nähern wir uns jenem Konflikt, dessen Lösung von vielen als Grundvoraussetzung dafür gesehen wird, dass die Region überhaupt befriedet und entwickelt werden kann: dem israelisch-palästinensischen. Auch im (überschätzten) Papier der vom US-Kongress eingesetzten Iraq Study Group werden verstärkte Bemühungen in diese Richtung gefordert, zum Ärger der israelischen Regierung. Die Bush-Administration hatte ja die palästinensische Gewalt gegen Israel bequem in die Akte „Kampf der Kulturen“ eingeordnet. Das Konzept wird soeben durch die innerpalästinensische Gewalt ein bisschen durcheinandergebracht – ist nun die die Hamas bekämpfende Fatah, zu der immerhin auch die Al-Aqsa-Brigaden gehören, wieder bei den Guten gelandet?

Die Ablehnung der Hamas-Regierung durch den Westen, so klar die Gründe dafür sind, war dem Ansehen der Demokratie in der Region nicht gerade förderlich: Und wie sollen wir wirklich erklären, dass Wahlen noch keine Demokratie ausmachen, dass andere Werte dazukommen müssen, wenn wir woanders – im Irak – aus politischen Gründen, weil uns die Reparatur des transatlantischen Verhältnisses zu Recht am Herzen liegt, so tun, als wäre gerade das der Fall. Das Wort Demokratie ist zum Treppenwitz verkommen in der arabischen Welt, wer will schon Bürgerkrieg durch Demokratie wie im Irak oder Ächtung durch Demokratie wie in den Palästinensergebieten.

Aber ist der israelisch-palästinensische Konflikt tatsächlich das Herzstück der Konfliktlösung, was hat er mit einem sunnitisch-schiitischen Bürgerkrieg im Irak oder anderswo zu tun (abgesehen von den üblichen Verschwörungstheorien, dass er ein amerikanisch-zionistisches Projekt sei, so wie die territoriale Zerschlagung des Irak)? Es ist noch einsichtig, dass Syrien mit Aussicht auf Friedensverhandlungen – und die auf eine Rückgabe des Golan durch Israel – zur Kooperation im US-Sinn im Irak gebracht werden könnte, wovon man sich aber auch keine Wunder versprechen sollte. Aber der Rest, in welcher Beziehung stehen die Grenzen eines zukünftigen Palästinenserstaates zum Konflikt im Irak?

Es muss hier nicht die berühmte Nahost-Parabel wiedererzählt werden, in der der Skorpion den Frosch, der ihn schwimmend über den Fluss bringt, durch einen Stich tötet, wodurch beide zum Sterben verdammt sind. Das mittelöstliche Paradoxon. Der Auftakt zur Eskalation in Falluja 2004, eine der dramatischen Wendepunkte in der Beziehung zwischen Amerikanern und Irakern, war die brutale Ermordung von vier US-Sicherheitsleuten und die Schändung ihrer Leichen in Ramadi: als Reaktion auf die „Liquidation“ des Hamas-Führers Scheich Yassin in Gaza durch Israel. Und doch haben die Iraker die Palästinenser gehasst, als sie, selbst verelendet in den Sanktionsjahren, die Lastwägen nach Palästina abfahren sahen und von den Geldspenden hörten. Die Palästinenser sind heute eine verfolgte Gruppe im Irak.

Die israelischen Ängste, dass nichts je an Konzessionen genügen wird, sind angesichts dieser Wirkungsmächtigkeit von Emotionen verständlich. Angst – die arabische Wahrnehmung Israels als expandierende Macht ist auch nichts anderes – ist das einzige Band, das alle Parteien verbindet im Nahen und Mittleren Osten. Nur wenn es zerschnitten wird, werden sich die Pforten der Hölle wieder schließen. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.12.2006)