So etwas hat es lange nicht gegeben. Wolf Haas vor Christoph Ransmayr und Daniel Kehlmann. Auf den Plätzen 4 und 5 Thomas Glavinic und Paulus Hochgatterer, auf dem sechsten dann der brasilianische Seeleningenieur Paulo Coelho, knapp gefolgt von den Herren Glattauer (ja, der vom Einserkastel) und Komarek. Die österreichische Bestsellerliste gleicht mittlerweile der Rangliste eines durchschnittlichen Damen-Skirennens. Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, fahren in der weißen Pracht die Speed-Queens der "Konkurrenz" um die Ohren, sind es auf der Bestsellerliste die Herren, die im literarischen Langstreckenlauf Roman die Maßstäbe setzten (was auch damit zusammenhängt, dass die Mannschaftskolleginnen Röggla, Streeruwitz und Schreiner im Herbst keine neuen Bände vorlegten).

Etwa 10.000 Stück eines Buches müssen in Österreich verkauft werden, um auf der Bestsellerliste aufzuscheinen, und natürlich gilt es mit Listen immer vorsichtig zu sein, mehr noch mit denen, die sie erstellen. Oft genug weicht die Schwarzer-Bestsellerliste von der des Standard und der Presse ab. Allerdings sind es vor allem die Platzierungen, nicht die Autoren, die variieren, was mit der unterschiedlichen Auswahl der Buchhandlungen, welche die meistgekauften Bücher erheben, zu tun hat. Fakt bleibt, dass die Namen österreichischer Autoren wieder einen guten Klang haben, auch in Deutschland. Die Berliner taz etwa rief vor einigen Wochen die "Kehlmanisierung" des deutschen Feuilletons zum wichtigsten kulturellen Trend des Jahres 2006 aus. Angespielt wird auf den gigantischen Erfolg des Wiener Autors Daniel Kehlmann, dessen Roman Die Vermessung der Welt nun schon endlose Monate auf den vorderen Plätzen der deutschsprachigen Bestsellerlisten liegt. 850.000 Exemplare wurden abgesetzt, und soeben ist das Buch in den USA in der renommierten Knopf Publishing Group erschienen. Der Rezensent der Washington Post meinte zum Phänomen, dass ein so junger Autor, Kehlmann ist 31, über ein Jahr lang die Bestsellerliste anführe, würde im amerikanischen Buchmarkt ein frühvollendetes Genie oder eine Jesuiten-Verschwörung erfordern.

Was also ist passiert? Hat der "Bazillus Kommerz" die österreichische Literatur infiziert? Sind hier zu Lande bisher keine guten Bücher geschrieben worden? Haben wir es mit einem Zufall zu tun, einem statistischen Ausreißer? Treffen die österreichischen Schriftsteller plötzlich besser die gesellschaftliche Wirklichkeit oder die Interessen der Leser? Oder wird die Literatur ganz im Gegenteil flacher, beliebiger? War es nicht der große Umberto Eco, der einmal meinte, ein Bestseller sei einfach "ein bisschen Sex, ein bisschen Geld und Verbrechen, ein bisschen Leben in den oberen Kreisen; oder auch eine gut beschriebene Erektion in jedem Kapitel ..."? Allerdings erwähnt der Bologneser Professor auch, dass der Bestseller eine "kommerzielle Kategorie" sei, "die nichts über den Wert des betreffenden Werks aussagt." Offenbar erinnerte er sich beim Schreiben der Glosse daran, dass sein Name der Rose an die 30 Millionen Mal über den Ladentisch ging - weltweit. Mindestens das, was man selbst schreibt, kann keinesfalls kommerzieller Mist sein.

Und so ist es wohl auch, literarischer Erfolg kann mit Qualität etwas zu tun haben, muss es aber nicht. Natürlich schaffen es immer wieder Bücher mit schönen Titeln wie Das Vermächtnis der Wanderhure, viele Krimis und Thriller in schlechter Übersetzung auf die Bestsellerliste, aber eben auch Philip Roth, Martin Walser und Michel Houellebecq, alles Autoren, die man nicht unbedingt als Trivialschriftsteller bezeichnen könnte. Die Frage, ob nun Ransmayr wirklich ein bessere Schriftsteller ist als, sagen wir, Günther Kaip und Franzobel ein besserer Lyriker als Elfriede Gerstel bleibt, und sie ist so leicht zu beantworten wie diejenige, ob Hermann Maier ein bessere Skifahrer ist als Didier Cuche (die Frage sei einem Schweizer erlaubt). Sie lautet "nicht unbedingt", denn natürlich geht es immer auch um Fortune, die Gunst der Stunde (in der Literatur das richtige Thema) und das richtige Material. Im Falle der Literatur ist dieses Material der Verlag, der je nach Größe, symbolischem Kapital und Marktmacht viel ausmacht, Autoren pflegen, an sie glauben oder nach ökonomisch schlecht gelaufenen Büchern fallenlassen kann. Schließlich wissen auch Verleger nicht genau, wie man Bestseller "macht".

Ein Verlag könne ein Buch zwar marketingmäßig unterstützen, trotzdem gehöre immer auch Glück zu einem Bestseller, sagt Matthias Part, der neue Leiter des Haymon-Verlages, der mit Alfred Komarek, dessen vier Polt-Romane sich über eine halbe Million Mal verkauften, über einen verlässlichen Bestseller-Autor verfügt. Dass sich viele Österreicher auf der Bestsellerliste finden, freue ihn zwar, man müsse aber sehen, dass im Moment wenig Gegenwind von der internationalen Literatur käme, absolute Top-Titel wie etwa Harry Potter würden im Moment fehlen.

Wobei das Thema internationale Literatur ein wesentliches ist. Schon lange beginnt und endet im deutschsprachigen Raum jede gängige Diskussion mit der Frage, wie unterhaltsam Literatur sein darf beziehungsweise wie unterhaltsam sie sein soll. Seit mehr als zwei Jahrzehnten erschallt im Betrieb ein lautes Lamento über den vermeintlich erbärmlichen Zustand der deutschsprachigen Literatur, in der es zu viel um düstere Selbsterforschung gehe, die von der Melancholie eines Kleiderschrankes sei oder in Mikrowellenromanen Altbackenes aufwärme. Und man fragte sich auch, warum sie kaum übersetzt wurde und im Ausland weniger Chancen hatte als andere Qualitätsprodukte aus Wolfsburg, Basel oder Graz. Lustig sei deutschsprachige Literatur übrigens auch nicht. Unterhaltung wurde zum Zauberwort und die amerikanische Literatur zum Kristallisationsort der Sehnsüchte. An die Amis solle man sich halten, dort könne man in "Creative Writing Courses" das Schreiben lernen.

Vielleicht stimmt das sogar, denn im deutschen Raum gab es schon immer eine ausgefeilte Rezeptionsästhetik, aber keine Produk- tionsästhetik, auch wenn sich das mit dem "Leipziger Literaturinstitut", den "Klagenfurter Schreibkursen", der "Wiener Schule für Dichtung" zu ändern beginnt. "Zurück zum Handwerk!", forderte dann vor einigen Jahren das Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung, die in Frankfurt erscheint. Hinter diesem Sager steht der Glaube an die Lehr- und Lernbarkeit von Literatur und literarischen Regeln. Bisher galt Schreiben nicht als lernbar, sonder als Sache des Erbguts (Talent) oder göttlicher Gnadenwahl (Genie).

Es war ein Paradigmenwechsel im Gang, welcher die deutschsprachige Nachkriegsliteratur infrage stellte. Auch in der Literaturkritik. Ulrich Greiner, Literaturchef der Zeit etwa meinte, seine Geduld, einem Schriftsteller zuzuhören, "der belesen über die Vorzüge der Belesenheit oder schwierig über die Schwierigkeiten des Schreibens schreibt", sei gering, und Thomas Steinfeld, sein Pendant in der Süddeutschen, schrieb vor vier Jahren, im "Großraumbüro der deutschsprachigen Literatur" sei viel zu lange ein literarisches Vergehen nie, ein politisches aber umso härter bestraft worden. Anderswo hieß es, die "postmodernen Bastler" sollten sich zum Schämen ins Eck stellen.

In Österreich war es eine Gruppe junger Autoren, vor allem Kehlmann (Jahrgang 1975) und Glavinic (Jahrgang 1972), welche diese Diskussion vor einigen Jahren führten. Sie forderten eine zugängliche Literatur, beschieden der österreichischen der vergangenen Jahrzehnte Beschreibungsimpotenz und ein Verharren in überkommenen, vor allem avantgardistischen Traditionen. "Auf der ganzen Welt ist Erzählen möglich, nur bei uns war es in den letzten 40 Jahren verboten", meinte etwa Glavinic. Kehlmann sagte einmal, er möchte Bücher schreiben, wir er sie selbst lesen möchte. Ein wichtiger Satz, den man ähnlich von Juli Zeh hört, wenn sie sagt, sie schreibe für ein Publikum und wolle gelesen werden. Wer will das nicht? Trotzdem wäre solch ein Statement noch vor zehn Jahren nicht möglich gewesen und hätte einem Autor den Vorwurf eingebracht, ein kommerzgeiler Trottel zu sein.

Auch die anderen Kollegen auf der Bestsellerliste kümmern sich nicht um ehemalige Vorgaben, spielen mit Leser-Erwartungshaltungen und brechen diese zum Teil. Wolf Haas ist mit seinen unkonventionellen Brenner-Krimis zum Star geworden und geht in seinem neuen Bestseller Das Wetter vor 15 Jahren, der in Interviewform geschrieben ist, neue Wege. Der ernsthafte, aber nicht humorlose Paulus Hochgatterer, dessen Bücher alle euphorisch rezensiert wurden und der trotzdem lange auf den Durchbruch warten musste, hat mit Die Süße des Lebens seinen ersten, formal avancierten Krimi geschrieben, Daniel Glattauer erweckt mit seinem E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind eine fast neue Gattung zum Leben, Christoph Ransmayr ist sich selbst treu geblieben und erzählt in hohem Ton von Höhenrausch, Liebe und einem Brüderpaar. Glavinic versetzt seinen Helden in die Situation, der letzte oder der erste Mensch auf der Welt zu sein, und Kehlmann konfrontiert in Die Vermessung der Welt Alexander von Humboldt mit Carl Friedrich Gauß, also zwei Weltsichten. Alfred Komarek schickt wieder Daniel Käfer auf die Reise.

Es handelt sich zweifellos um Bücher, die gut gemacht und anständig geschrieben sind, spannend, manchmal auch witzig sind und das haben, was man auf Neudeutsch einen Plot nennt. Auch handelt es sich bei den genannten Autoren nicht um künstlich gehypte literarische Retortenbabys. Alle haben schon mehrere Bücher geschrieben und wurden von ihren Verlagen entweder behutsam "aufgebaut", Glattauer und Hochgatterer von Deuticke, wo auch Kehlmann seine ersten Bücher publizierte, Haas von Rowohlt (jetzt Hoffmann und Campe), Ransmayr von Fischer, oder sie haben wie Glavinic (Hanser) und Kehlmann (nun Rowohlt) nach Verlagswechseln immer wieder ein gutes Umfeld vorgefunden. Natürlich spielen dabei auch Marktmechanismen eine Rolle, die Polt- und Brenner-Verfilmungen haben den Autoren sicher geholfen, Glattauer ist in Österreich kein Unbekannter, Glavinic, Hochgatterer und Kehlmann sind mit Kolumnen und Artikeln in den Printmedien präsent. Nicht wegzudiskutieren ist, dass die Literatur immer wie stärker nach dem Top-Ten-Prinzip funktioniert, entweder man hat Erfolg und ist präsent oder verschwindet unter der Wahrnehmungsgrenze und aus dem Buchhandel.

In dem Sinn ist vor einem Tanz um das Goldene Kalb Bestsellerliste zu warnen, und es bleibt anzumerken, dass es sich bei der Nationalisierung der Bestsellerliste um eine Entwicklung handelt, die gerade für andere, meist kleine, um nationale Abgrenzung bemühte Länder auch gilt. So waren in Griechenland schon seit jeher die griechischen Titel auf den Bestsellerlisten, und auch in der Schweiz sieht es, ganz anders als in Deutschland, mit von Schweizern geschriebenen Top-Drei-Titeln nicht viel anders aus. Freuen kann man sich allenfalls über eine Generation von neuen Autoren, die mit einer gehörigen Portion Unverfrorenheit, mit Fantasie und Leichtigkeit Bücher schreibt. Die Themen der Literatur sind, gerade weil das Leben eben keine Plots schreibt, eh die gleichen geblieben. Christian Enzensberger, der Bruder von Hans Magnus, schrieb sinngemäß in seinem Buch Literatur und Interesse, dass wir lesen, um etwas anderes nicht zu tun, nicht zu verreisen, nicht zu morden, nicht zu lieben, nicht für eine bessere Welt zu kämpfen. Denn wollten wir wirklich verreisen, morden, lieben, für eine bessere Welt kämpfen, so würden wir nicht lesen. Genau aus dem Grund muss man nicht lesen, man kann es höchstens trotzdem tun, das Wort dafür heißt Begeisterung. Für das Schreiben gilt wahrscheinlich dasselbe.

In Kehlmanns vorletztem Buch I ch und Kaminski trifft der alte, einstmals sehr berühmte Maler Kaminski bei einer Vernissage den jüngeren Kollegen Walrat, einen "der besten Maler des Landes". "Die Kenner schätzten ihn, er hatte aber nie Erfolg gehabt; irgendwie hatte es sich nicht ergeben, daß eines der wichtigen Magazine über ihn geschrieben hatte." Dieser Walrat meint im Gespräch mit Kaminski: "Duchamp ist wichtig. Er ist jemand, an dem man nicht vorbeikommt." "Wichtigkeit ist nicht wichtig", meint Kaminski. "Malen ist wichtig." (Stefan Gmünde / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30./31.12.2006/1.1.2007)