Ein Mann, der zwei Frauen liebt, und dadurch nur noch einsamer wird: Markus (Andreas Müller) samt Kaninchen in Valeska Grisebachs großem Liebesfilm "Sehnsucht".
Foto: Filmladen
Mit ihrer klugen Reflexion einer melodramatischen Standardsituation beschert sie dem noch jungen Kinojahr einen ersten Höhepunkt.


Wien – Markus (Andreas Müller) liebt Ella (Ilka Welz). Dann fährt er mit der Freiwilligen Feuerwehr auf Schulung in einen Nachbarort, und nach einem feuchtfröhlichen Abend wacht er morgens in der Wohnung von Rose (Anett Dornbusch) auf. Auch für sie entwickelt er in der Folge Gefühle. Eine Zeit lang führt er ein Doppelleben, aber irgendwann lässt sich dieser emotionale Ausnahmezustand nicht länger verbergen. Das Glück an zwei Orten kann nicht von Dauer sein.

Das ist die Geschichte, die die deutsche Regisseurin Valeska Grisebach (Mein Stern) in ihrem zweiten Langfilm Sehnsucht erzählt. In der groben Zusammenfassung klingt sie nach einem bloßen Repertoirestück. Aber Sehnsucht, der im vergangenen Jahr im Wettbewerb der Berlinale wie ein Solitär auftauchte, ist alles andere als ein solches – er ist vielmehr eine eigenwillige, spröde und dennoch intensive Befragung "großer Gefühle". Und so ist das vermeintlich Repertoirehafte nur ein erster Hinweis darauf, dass der Film und seine Autorin die romantische Tradition, die auch der Titel andeutet, reflektieren.

Die erste Idee entstand nach einer realen, mündlich tradierten Begebenheit (eine Form, in der solche Geschichten kursieren, die auch der Film aufgreift). Das Drehbuch basiert auf weiteren, umfänglichen Recherchen: auf Interviews, in denen die Befragten über ihre Sehnsüchte, über ihre Erwartungen an die und Erfahrungen mit der Liebe Auskunft gaben.

Der Film, mit beeindruckend agierenden Laien besetzt und im Umland von Berlin gedreht, hat sich diesen dokumentarischen Gestus erhalten. Die Geschichte wirkt in vieler Hinsicht wie vorgefunden, dabei ist sie sorgfältig konstruiert. Diese beiden Ebenen überlagern einander beständig. Einzelne Dialoge und der Erzählbogen sind Indizien für Letzteres; Ersteres findet sich im genau gezeichneten Milieu, in den Haltungen und Handgriffen wieder und wird über weite Strecken durch den Einsatz einer nahe an den ProtagonistInnen bleibenden Handkamera unterstützt.

Kino, Alltag, Gefühle

Aus der Reibung zwischen Wirklichkeit und Fiktion entsteht ein Drittes. Der Film wirkt so, als würde man Kinoerfahrung und Alltagserfahrung übereinanderlegen – einiges fällt dabei weg, anderes wird verstärkt. Der Satz "Ich liebe dich!" wirkt dann fast wie ein Fremdkörper; die punktuell eingesetzten melodramatischen Wendungen sind stets im Konkreten verankert und weisen gleichzeitig darüber hinaus.

Einzelne Motive werden im Verlauf variiert: So beginnt Sehnsucht am Schauplatz eines Autounfalls. Markus rettet den Fahrer. Die Frau, die mit ihm im Wagen saß, hat nicht überlebt. Der Retter hadert bald darauf damit, "dass ich da Schicksal gespielt habe" – das Paar hatte offensichtlich vorgehabt, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden.

Folglich ist dann von Romeo und Julia die Rede – eine Balkonszene wird später auch in Sehnsucht eine entscheidende, schicksalhafte Rolle spielen. Und zwischen zwei leidenschaftlichen Begegnungen – erst mit Ella, später mit Rose –, hilft Markus beim Errichten eines Feuerstoßes, dessen lodernde Flammen man durchaus auch als ein Symbol für die Innenwelten der Figuren lesen kann.

Diese – den Mann und die beiden Frauen – zeigt der Film in realistischer Perspektive, aus nächster Nähe, aber ohne dass je der Eindruck von Beengtheit entstünde, eingebunden in einen dörflichen Alltag zwischen Arbeit und sozialen Zusammenkünften. Dem gegenüber steht die Intimität zu zweit.

Hier wechselt auch die Sprache die Register, hier ist das Moment der Verfremdung vielleicht am deutlichsten angelegt: In der Diskrepanz zwischen intensiv empfundenen Gefühlslagen und dem Ringen nach einem Ausdruck dafür, der sich nicht selten im Rückgriff auf Standardsätze erschöpft.

An einigen Stellen überantwortet Grisebach diesen Ausdruck der Musik beziehungsweise dem Gesang, der die Liebenden zum Tanzen (oder zum Weinen) bringt. Ans Ende des Films hat sie jedoch eine Sequenz gesetzt, die das zuvor Gesehene noch einmal auf überraschende Art und Weise weiter "übersetzt":

Eine Gruppe von Halbwüchsigen sitzt auf dem Dorfspielplatz und bespricht die Geschichte vom Mann und den beiden Frauen. Das sei "wirklich passiert" – und es sei "wahre Liebe" gewesen. Die einen finden das "romantisch", die anderen kommentieren die Konsequenz, die der Mann aus seinem Dilemma zog, wahlweise als "mutig" oder "ganz schön dumm".

Damit wird die spezifische Erzählung mit berückender Leichtigkeit wieder in jenes kollektive Bewusstsein gerückt, in dem sie (als Allgemeinplatz) immer schon eine tragende Rolle spielt. Nicht nur in solchen geglückten Wendungen liegt die spröde Schönheit dieses Films. (Isabella Reicher/ DER STANDARD, Printausgabe, 03.01.2007)