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Industrialisierung ohne Rücksicht: Kinderarbeiter in den Kohlenminen Pennsylvanias 1911 – Bild von Lewis W. Hine.

Foto: Hine/Corbis

Auf Erkundigungen, warum man Tage und Nächte mit dem neuen Roman Thomas Pynchons verbringt, empfiehlt sich folgende Antwort, die einem seiner Adepten zugeschrieben wird: "Pynchon ist der größte Spaß, den man haben kann, ohne in vielen Staaten Gefängnis zu riskieren."

Sicher: Pynchon lesen ist nicht nur ein verrückter Trip, es kann auch verflixt kompliziert sein. Seine Romane verstehen zu wollen gestaltet sich als langwieriger Prozess, in dem man ständig an den Start zurückgeworfen werden kann. Nicht weil für Pynchon im postmodernen Sinne alles ein Spiel wäre ("Leser, ärgere dich nicht"), sondern weil er uns nicht für dumm verkauft und die Schwierigkeiten, die beim Sich-Orientieren und Begreifen-Wollen entstehen, nicht leugnet.

Das vorausgeschickt und vorausgesetzt, man erwartet keine einfachen Antworten, gibt es unter den zeitgenössischen Romanciers keinen besseren Welterklärer als Pynchon.

Am besten betritt man seine Romane mit einem brauchbaren Wörterbuch und einer möglichst umfassenden Enzyklopädie im Gepäck. Nach einigem Stirnrunzeln und immer öfter angeregtem Schmunzeln – über einen Hund, der seine Nase interessiert in eine Abhandung zum Thema Anarchie steckt, oder über Franz Ferdinands hochprozentigen Auftritt auf der Chicagoer Weltausstellung 1893 ("'When Franz Ferdinand drinks', he cried, 'everybody drinks!'") – verliert man bald die Scheu und berauscht sich an der Imaginationskraft und sprachlichen Brillanz des Gastgebers, der sich in seinem sechsten langen Erzählwerk wieder einiges hat einfallen lassen.

"Now single up all lines!", hebt er an. Mit den abenteuerlustigen Chums of Chance, der Besatzung des fantastischen, wasserstoffbetriebenen Luftschiffs Inconvenience (sprechende Namen ziehen sich durch den Roman), begibt man sich in die Lüfte und segelt beobachtend über einer Welt, die mit ein wenig Fantasie als die unsere um 1900 imaginiert werden kann. Ganz ist sie es nicht. Überhaupt werden in diesem Roman, wie schon in Pynchons vorangegangenen Werken, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, (grauer) geschichtlicher Wahrheit und (bunten) Erfindungen wieder einmal gründlich verwischt.

Die Unklarheiten beginnen schon auf dem Cover: "AGAINST THE DAY / THOMAS PYNCHON / A NOVEL", steht da geschrieben, in dicken, schwarzen Kapitallettern, die zwei dünne, graue Schatten werfen. Der Eindruck von Unschärfe, der beim Betrachten des Schutzumschlags entsteht, steigert sich während der Lektüre bisweilen zu dem Gefühl, man halluziniere dieses Buch mehr, als es zu lesen.

Damit korrespondierend spielen Themen wie Spiegelung und Doppelung eine bedeutende Rolle. Doppelgänger treten auf (der Bösewicht Scarsdale Vibe leistet sich einen Mann fürs Grobe), schizophrene Figuren (köstlich die Wissenschafter Renfrew und Werfner, angeblich erbitterte Kontrahenten aus Cambridge bzw. Göttingen und doch nur Spiegelungen ein und desselben mathematischen Wahns) finden sich zur selben Zeit an verschiedenen Orten wieder (Stichwort "Bilocation"). Und ein Luxusdampfer verwandelt sich auf offenem Meer unvermittelt in einen Zerstörer.

Alles scheint möglich. Eine Expedition dringt in Asien tief in den Wüstensand ein und entdeckt das mythische Shambhala (über den "spirituellen" Pynchon als vielleicht letzten echten Hippie müsste noch einmal gesondert gesprochen werden). Eine andere besichtigt gleich das Erdinnere. Zeitreisen werden diskutiert und prompt auch unternommen. Am Ende des Buches kulminiert das Hokuspokus – natürlich in Hollywood – in einem Apparat, der ausgehend von einem Foto nicht nur die Vergangenheit und Zukunft eines Menschen in bewegten Bildern sichtbar werden lässt, sondern auch die vertanen Chancen, die nicht genommenen Abzweigungen in einem Lebenslauf.

"Against The Day" ist wie sein Vorgänger "Mason & Dixon" (1997), wie eigentlich ein jeder Pynchon-Roman, eine trotzig-traurige Feier der Möglichkeiten, die es einmal gab, die aber nicht realisiert wurden. Rückblickend leistet es die Bestandaufnahme einer Zeit, in der die Weichen für die Gegenwart gestellt wurden – und das meint: Möglichkeiten radikal beschnitten wurden. Durch die Politik, durch Technisierung, durch Konzerne, durch Krieg. "Against The Day" ist in seinem Kern deshalb ein dunkles, über weite Strecken pechschwarzes Buch, das (sich) wenig Hoffnung macht, das Gute werde noch siegen.

Mehr als ein bisschen Eskapismus ist nicht drin. Pynchon spielt zwar hingebungsvoll mit Versatzstücken früher Sciencefiction-Bücher und fortschrittsgläubiger Groschenromane. Und er scherzt so derb, als gälte es, die Weltmeisterschaft in Toilettenhumor zu gewinnen. Doch es nützt alles nichts. Die historischen Fakten, auf denen seine Gegengeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs aufbaut, stimmen. Leider. "Do not imagine, that in coming aboard Inconvenience you have escaped into any realm of the counterfactual", warnt eine Stimme gleich zu Beginn.

Anders als in früheren Romanen hat es manchmal den Anschein, Pynchon würde direkt zum Leser sprechen. Und er macht keinen Hehl daraus, wo seine Sympathien und Abneigungen liegen: Er verachtet die herrschende Klasse, das Kapital, alles Konforme, er fühlt mit den Abweichlern, Aufwieglern und Anarchisten. Obwohl er früh stirbt, ermordet von Schergen des Schurken Scarsdale Vibe, ist Webb Traverse der eigentliche Held des Romans. Webb führt ein Doppelleben. Als Vorarbeiter in einer Mine in Colorado versorgt er seine Familie, als sagenumwobener "Kieselguhr Kid" verübt er Sprengstoffanschläge – sein Weg, Protest gegen die Machenschaften ausbeuterischer Unternehmen zu formulieren.

Nach seinem Tod laufen die Wege seiner vier Kinder auseinander. Am bedrückendsten gestaltet sich das Schicksal seiner Tochter Lake: Sie heiratet einen der beiden Mörder ihres Vaters. Für sie kann es folglich keine Rettung geben. Die Söhne schwärmen in die Welt aus. Der Heißsporn Reef schreit am lautesten nach Rache, verkommt jedoch zum ziellos herumstreunenden Spieler. Der schlaue Kit kann nur um den Preis Mathematik studieren, sich von Scarsdale Vibe sponsern zu lassen. Letztlich ermöglicht ihm seine Bildung aber Einsichten, und er sagt sich vom Teufel los (und entsagt einer Karriere). Frank tritt am ehesten in die Fußstapfen des Vaters, als Arbeiter und Kämpfer für die Arbeiterbewegung.

Ratlos grübeln die Brüder darüber nach, was zu tun wäre, und verlieren dabei, wie der Roman, immer wieder den Faden, lassen sich treiben zwischen Amerika, Europa und Asien, werden unscharf und für Momente sogar unsichtbar. Immerhin kreuzen unterwegs mit schöner Regelmäßigkeit dieselben Frauen ihren Weg – die Mathematikerin Yashmeen, die schauspielernde Dally, das Cowgirl Estrella. Nach 700, 800 Seiten geht einem auf: Das ist Pynchons Art, Webbs Nachfahren langsam mit der Welt zu versöhnen.

Die letzte Chance auf ein gelungenes Leben verortet Pynchon nämlich in der Familie. Wie zuletzt "Vineland" (1990) und "Mason & Dixon" ist "Against The Day" auch ein Familienroman und als solcher nicht frei von Sentimentalitäten. Anders als in den beiden genannten Büchern rückt Pynchons Harmoniebestreben aber erst gegen Ende hin in den Mittelpunkt.

Vorher wird der Sinn fürs Familiäre überdeckt von seinem alten Faible für Technik, Naturwissenschaften und im Besonderen höhere Mathematik, die "Against The Day" mit "V." (1963) und "Gravity's Rainbow" (1973) verbindet. Diese Koppelung der Interessengebiete machte den neuen Roman zu einer Klammer, die alle Facetten von Pynchons Denken zusammenfasst wie eine gewaltige Formel.

Überhaupt, diese Zahlen, oh, ihr Koordinatensysteme: Vierdimensionale Landschaften tun sich auf, neben imaginären Räumen ist plötzlich auch die Zeit von Interesse (was letztlich zum Thema Zeitmaschinen führt). Man hat als Leser ohne technisch-naturwissenschaftliches Hochschulstudium so seine liebe Not mit Passagen über Bernhard Riemann und seine Zeta-Funktion oder David Hilbert und seine Liste der ungelösten Probleme der Mathematik.

Doch auch wenn man vielleicht nicht genau sagen kann, wodurch sich die Anhänger der Quaternionen nun von jenen der Vektorenlehre unterscheiden, ergötzt man sich am Eifer, mit dem die rivalisierenden Denkschulen immer neue Luftschlösser bauen und sich vehement hassen. Pynchon versteht die höhere Mathematik als ein Spiel fast ohne Grenzen, nicht unähnlich einem Roman. Er verschweigt gleichzeitig nicht, wohin sie auch geführt hat: zu so genannten intelligenten Waffensystemen.

So läuft "Against The Day" hinaus auf Krieg, auf Zerstörung und nicht zuletzt auf die Neuaufteilung von Land und Besitz, die immer zugunsten weniger Mächtiger abläuft. Vor hundert Jahren ist für Thomas Pynchon die Welt untergegangen. Damals sind die Konzerne entstanden, die für ihn nach dem Menschen den nächsten Schritt in der Evolution darstellen, "a new living species, one that can out-perform most anything an individual can do by him-self ...". Wir Menschen sind unnütz geworden, führen Geisterexistenzen.

Trotz einiger, auf über 1000 Seiten kaum zu vermeidender Längen verfügt Pynchon nach all den Jahren über ein Feuer, das immer noch seinesgleichen sucht, und über die Bannkraft eines Radio-Nachtprogramms. Eines, wie man es nur alle heiligen Zeiten zu hören bekommt und das man nicht abschalten kann, obwohl man längst im Bett sein wollte. Die Stimme dringt nicht immer deutlich durch den Äther und hat kaum gute Nachrichten zu verkünden, aber man spürt: Was sie zu sagen hat, ist wichtig. Es handelt von uns. (Sebastian Fasthuber / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6./7.1.2007)