Selbst wenn man Alfred Gusenbauers Willen zu realen Verbesserungen ernst nimmt, muss man ihm Unfähigkeit im Umgang mit symbolischer Politik bescheinigen, meint Isolde Charim.

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Seit dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen erleben wir eine erstaunliche "Auseinandersetzung": auf der einen Seite alle Kritiker, Enttäuschte, Empörte, Zyniker, und auf der anderen Seite - Alfred Gusenbauer. Denn selbst jene, die ihn verteidigen, tun dies nicht ob, sondern trotz seines Verhandlungsergebnisses. Gegenstand dieser seltsam asymmetrischen Auseinandersetzung ist letztlich die Frage, was reale Politik sei und wo sie verortet ist. Man könnte auch sagen, es ist ein Streit darum, was "nur" symbolisch an der Politik ist.

In diesem Sinne hat Konrad Paul Liessman (im STANDARD, 13./14. 1. 2007) das krude Basis-Überbau Schema, das die linke Theorie in dieser Form seit langem in die Mottenkiste des Vulgärmaterialismus verstaut hat, bemüht, um die derzeitige Situation darzustellen: hier die SPÖ als Partei des Überbaus, zuständig für die weichen Themen, Frauen, Kunst, Soziales; da die ÖVP als Partei der ökonomischen Basis, die eigentlich steuernd - früher hätte man gesagt: determinierend - sei.

Abgesehen davon, dass es sich in beiden Fällen um Parteien, um Politik also handelt, die in dieser Einteilung ja selbst ein Überbauphänomen ist, zeigt dies - nicht als Analyse, sondern als Indiz genommen - was die Grundlage aller Kritiken ist: die eindeutige Zuordnung, wo die reale, die wirkliche Politik zu suchen sei - und was nur symbolisches Brimborium sei, mit dem sich die SPÖ abspeisen ließ.

Gusenbauer hingegen wiederholt gebetsmühlenartig seine Unterscheidung zwischen "Symbolen der Macht", wie etwa das Innen- oder das Außenministerium, und jenen Bereichen, wo es zu realen Verbesserungen, zu wesentlichen Veränderungen kommen solle. Wenn man diese Behauptung nicht vorschnell als Schönreden einer Verhandlungsniederlage abtut, wenn man sie einen Moment ernst nimmt, dann bedeutet dies den Versuch, Realität und Symbolik in der Politik anders zu verteilen. Es bedeutet eine nicht ökonomistische Bestimmung der politischen Wirklichkeit: die politische Notwendigkeit wäre somit kein Reflex einer ökonomischen Basis, sondern würde dort liegen, wo die drängendsten Probleme und Konflikte sind.

Dies entspricht auch Gusenbauers gestriger Regierungserklärung, wo er einem realistischen Bild, was Politik leisten kann, das Wort sprach. Die politische Realität wäre somit der Bereich der drängendsten gesellschaftlichen Probleme und der Bereich, wo sie überhaupt noch gestalten kann.

Man soll sich im Zeitalter der Globalisierung über die Möglichkeiten von Politik weder Illusionen machen, noch verkennen, wo sie tatsächlich noch eingreifen und auf das Ökonomische rückwirken kann. Im Umkehrschluss wären die Bereiche ehemaliger politischer Macht heute eben nur noch symbolisch relevant. Diese Definition findet sich zumindest teilweise in der Ressortverteilung wieder: Bildung, Soziales und Infrastruktur sind tatsächlich neuralgische Punkte. Hier liegt vieles im Argen und ihre hochkarätige Besetzung verstärkt noch das Interesse daran.

Versäumnisse

Wenn man nun davon ausgeht, dass eine Koalition ein Tauschhandel ist, bei dem es Zug um Zug geht, dann kann man noch verstehen, dass Finanzministerium gegen Bundeskanzleramt gesetzt wird (noch dazu, wo jenem ein politisches Schwergewicht wie Christoph Matznetter beigestellt wird). Darüber hinaus sollte man nicht übersehen, dass diese Zusammenarbeit, diese "Koalition unter zivilisierten Partnern" (Christian Rainer), der ÖVP die Möglichkeit einer Resozialisierung bietet - willkommen zurück!

Ist also manches damit zu erklären, so ist es bei allen Konzessionen und bei aller Pragmatik aber vollkommen unverständlich und dem eigenen Ansatz widersprechend, wie man auf einen Integrationsstaatssekretär verzichten konnte, wie Barbara Coudenhove Kalergi an dieser Stelle bereits angemerkt hat.

Wenn es schon darum geht, akuten Notwendigkeiten den Vorrang vor Prestige zu geben, dann ist es vollkommen unverständlich, wenn die drängendste Problematik ausgeklammert bleibt: Ein riesiges Versäumnis, von dem man nur hoffen kann, dass es durch die Bereiche Bildung und Soziales zumindest in der Sache etwas aufgehoben wird.

Nicht einholbar bleibt, dass jenseits aller Fragen der Koordinierung und Verwaltung, die symbolische Dimension, d.h. die Aufwertung der Integrationsproblematik verabsäumt wurde. Sosehr die Neubestimmung der politischen "Basis", der politischen Realität zumindest diskussionswert ist - und so mutig es auch ist, diesen Agenden Priorität einzuräumen und dafür derart geprügelt zu werden -, so muss man doch die komplette Unfähigkeit im Umgang mit jeglicher symbolischen Politik festhalten.

Dies wird ganz besonders deutlich sichtbar am Umgang mit Kritik aus den eigenen Reihen. Damit ist nicht die Formlosigkeit des steirischen Landeshauptmanns gemeint, sondern der Protest der Studenten. Demonstrieren ist ein linker Initiationsritus, wie die leicht wehmütigen Erinnerungen daran vom Sozialminister bis zum Bundespräsidenten zeigen. Gusenbauer aber reagiert auf die Demonstranten nicht anders als Schüssel es getan hat. Er redet von "kommunistischen Slogans", beschimpft protestierende junge Leute, die empört sind, dass die Studiengebühren bleiben, als "gewaltbereite Demonstranten" und benutzt den Hintereingang, wenn vorne zweihundert Jusos stehen. Der Mann hat echt kein Gespür für Situationen!

Den schlagendsten Beweis dafür lieferte er unmittelbar nach der Angelobung, als er mit Wilhelm Molterer unter den wütenden Rufen der Demonstranten über den Ballhausplatz geht: üblicherweise hätte ein ZiB1 Bericht an dieser Stelle abgebrochen, der ORF aber hielt zehn Sekunden länger drauf - zehn Sekunden, in denen die ganze ORF Reform steckt. Danke, Herr Wrabetz! - und man hört Molterer sagen: Das erinnert mich an gewisse Situationen. Wie viel steckt in diesem heiklen Satz in diesem Moment - und Gusenbauer, Gusenbauer, der noch vor paar Jahren auf der anderen Seite der Absperrung stand, wendet sich zum ÖVP-Chef und sekundiert ihm, lachend, mit einer abfälligen Bemerkung über die Demonstranten in der Löwelstraße.

Man mag reale Politik neu bestimmen wollen, symbolische Politik dabei aber so aufzugeben, ist unmöglich. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.1.2007)