Paris - Langsam, aber sicher gleitet das Théâtre du Soleil der Ariane Mnouchkine von den Dramen Shakespeares und der Griechen hinüber zu den Tragödien des 20. Jahrhunderts, um mit Les Ephémères (Die Vergänglichen) in der französischen Alltagswelt und den - wesentlichen - Momenten des Lebens anzukommen.

Mnouchkine und ihre 25-köpfige Truppe (plus sechs Kinder) stellen die vergänglichen, flüchtigen, prägenden Ereignisse des Lebens dar: Tod, Geburt, Hauskauf, Hochzeit, Scheidung, geteiltes Erziehungsrecht, geschlagene Frauen und gewalttätige Männer, Adelige, ein delikater Transsexueller oder Kinder am Strand.

Die relativ kurzen Szenen der Ephémères werden wie ein bunt hingeworfenes Puzzle präsentiert, das erst im Laufe der Aufführung zusammengefügt und verständlich wird. Wenn man früher im Wald von Vincennes in die Cartoucherie, wo das 1964 gegründete Théâtre du Soleil seit 1970 residiert, ankam, bot die außergewöhnliche Mnouchkine-Truppe "eine Reise" in ein Land an. Diesmal wird der Alltag zum Tragödienmaterial erhoben. Im Rahmen des Mnouchkine'schen Tagestheaterrituals.

Man kommt gegen zwölf Uhr an, die Vorstellung beginnt um 13 Uhr, man verlässt das Theater nach 21 Uhr. Reine Spieldauer: zweimal Dreieinviertelstunden plus eine lange Pause. Wer die Abendvorstellungen bevorzugt, muss zweimal den Weg in die Cartoucherie antreten, um die diversen Handlungsstränge nachzuvollziehen.

Die vergänglichen Szenen der Lebenseindrücke wurden mit den Schauspielern auf Improvisationsbasis erarbeitet. Die Akteure haben also keinen literarischen Text als Vorlage, sondern spielen aufs Wesentliche reduzierte Dialoge, auch stumme Szenen: viele, bis an die Grenze des Erträglichen demonstrierte Einblicke in Leben und Tod. Ein Theater der Emotionen, das oft zu Tränen rührt. Oder Nachdenken, Lächeln oder Lachen provoziert.

Spannungslösungen

Shaghayegh Beheshti als verrückte Madame Perle und Juliana Carneiro da Cunha als Ärztin haben Figuren von überwältigender Theaterkraft geschaffen. Beheshti war im letzten Stück, Le dernier Caravansérai, zu bewundern, Carneiro da Cunha spielte in den Atriden mehrere Rollen. Wie auch hier, wo sie in 17 Szenen acht Rollen übernimmt und befreiendes Lachen zum Schluss auslöst - als sie, die 1943 eine jüdische Familie beherbergt, einem deutschen Soldaten durch einen Trick Angst einjagt. Lachen, das von der Angst und von der Bedrückung befreit.

Als mögliche (lässliche) Kritik an dem neuen Mnouchkine-Stück wäre zu konstatieren, dass die Szenografie den Theatertext weit gehend ersetzt. Die Truppe arbeitet auf runden oder rechteckigen Bühnenbrettern - auf Rollen, die von den gerade nicht beschäftigten Darstellern (in Hockstellung) angeschoben und gedreht werden, damit die - diesmal einander gegenüber sitzenden - Zuschauer verschiedene Blickpunkte einnehmen können.

Auf diesen Plateaus werden Interieurs, Gärten, Strände rekonstruiert, die auch historisch genau den Zeitpunkt der Handlung angeben. Lampen, Telefone, Sitzbänke geben z. B. die Daten der Vorgeschichte der Jeanne Clément (Delphine Cottu) an, die nach dem Tode ihrer Mutter erfährt, dass diese jüdische armenische Eltern hatte, die 1943 nach Auschwitz deportiert wurden.

Systematisch sucht sie Orte und Zeitzeugen auf, bis sie das bretonische Dorf findet, in dem ihre Mutter überleben konnte. Ariane Mnouchkine schafft aus Alltagsmaterial große Dramatik, untermalt von der Musik von Jean-Jacques Lemêtre, bedankt mit Standing Ovations. (Olga Grimm-Weissert aus Paris/ DER STANDARD, Printausgabe, 17.1.2007)