Drei Uhr früh. Seit Mitternacht drücke ich mich in völliger Illegalität auf russischem Territorium herum, eine befreundete Ethnologin begleitet mich und übersetzt; ich würde sie gerne mit Komplimenten überhäufen, bestünde sie nicht auf Anonymität. Der geheime Grenzübertritt ist wie im Film abgelaufen, im Kriechen, Grenzwächter haben freundlicherweise den Stacheldraht zur Seite geschoben; sie wurden schadlos gehalten für die Risiken, die sie für einen seinerseits bezahlten Lotsen auf sich nahmen. "Dawai, dawai, schnell, schnell", drängt er. Die russischen Posten sind weniger als 15 Meter entfernt. Nach einem Ritt über Felder und einigen Stürzen in den Schlamm lässt er uns unter einer Weide zurück. "In 20 Minuten bin ich zurück."

Die Frist verstreicht zehn Mal. Kommt er zurück? Kommt er nicht zurück? Ganz nahe bellen Hunde, wir erstarren in unserer neuen Untergrund-Existenz. Nächtliche Hirten streifen uns und leeren die letzte Flasche der Nacht, zu betrunken, um uns zu bemerken. Mehr ein Abenteuer von John Ford, eine Szene für Beckett, zwischen dem Ungewöhnlichen und dem Absurden. Schläft unser Führer irgendwo seinen Rausch aus? Er schien reif dafür.


Clochards ohne Handy

Aufgepflanzt wie Wladimir und Estragon am Straßenrand, am Ende der Welt, bedauern wir, das Handy zurückgelassen zu haben (um ungelegene Anrufe zu vermeiden). Hier sind wir also, ohne unverdächtige Identität, Clochards des Postkommunismus.

Ich bin auf eine plötzliche Eingebung hin losgefahren. In Paris verweigert mit der russische Botschafter ein Visum und knüpft damit an Gebräuche an, die man abschaffen wollte. Ich mache kurzen Prozess und dringen ohne Erlaubnis in seine "Föderation" ein. Einige Zeit begegne ich dem Sonderkorrespondenten von Le Monde, dem sein Visum im Pass nichts nützt: Denn er lehnt die journalistisch-touristische Reise in die "befreiten" Gebiete und die gefälligen Interviewpartner ab, die vom Generalstab freundlicherweise organisiert wurden. Der tschetschenische Widerstand hilft den unverbesserlichen Neugierigen, stellt die notwendigen Kontakte her, aber er garantiert nicht Risiko Null.

Unser Begleiter taucht wieder auf, wir fahren im Auto weiter, wechseln den Wagen. Später erfahre ich, dass wir entkommen sind, die Polizisten waren in ihrem Unterschlupf eingeschlafen. Am nächsten Tag wurde die Straße gesperrt, das Verbindungsnetz unterbrochen, es gab Tote und Festnahmen. Es dauerte zwei Wochen, bis die Schwerletzten in ausländische Spitäler gebracht werden konnten.

Die extreme Unsicherheit, unter der die örtliche Bevölkerung ständig leidet, wird bei meinen persönlichen Abenteuern andererseits berührende Begegnungen erleichtern. Philosophische Studien bereiten schlecht auf die Suche nach der Wahrheit vor. Die Geheimhaltung rund um den Tschetschenien-Krieg begünstig Gräueltaten. Der Übeltäter arbeitet im Schatten, die Straßenlaternen schützen den Passanten. Betrachten Sie mich als Taschenlampe.

Ungewisse Arbeit

Im Krieg arbeitet man im Ungewissen, hat mich mein Clausewitz gelehrt. Sofortige Bestätigung: Drei Mal habe ich den regulär (unter Überwachung der OSZE) gewählten Aslan Maschadow (Präsident von Tschetschenien, Red.) verpasst. Das erste Mal waren wir in Sichtweite, aber die nahen Kämpfe blockierten den Weg. Zwei seiner Leibwächter wurden getötet. Zweiter Versuch: Die Autos des FSB (russischer Inlandsgeheimdienst, Red.) sind mir auf den Fersen. Würde ich als Köder dienen? Nein danke! Dritter Anlauf, alles bestens, der Tee steht bereit, er ist zu unserem Treffen gekommen, aber da setzt ein Bombenhagel ein, eine Woche lang. Im selben Moment stellte der europäische Sondergesandte Lamberto Dini eine "wirksame Feuerpause" fest.

Mehr ein Meister des Friedens als ein Meister des Krieges: Maschadow interessiert mich. In seiner Rolle als militärisch Verantwortlicher ist er nur ein Primus inter pares, er koordiniert, aber er kontrolliert seine Pairs nicht. In der Religion wie in der Strategie halten die Tschetschenen wenig von vertikalen Hierarchien. In der Sufi-Tradition ist die Beziehung zu Gott direkt, ohne Vermittler. In der säkularen Tradition der Guerilla zählt nur der Mut, sich dem Feind zu stellen. Die Verdienste und das Prestige der Krieger lassen keine unendlichen Kontroversen zu.

Politisch bleibt Maschadow unanfechtbar und unangefochten. Ich bin nicht einem Tschetschenen begegnet, selbst unter jenen, die sich vorübergehend mit der Besatzung abfinden, der den gewählten Präsidenten nicht als einzigen glaubwürdigen Gesprächspartner des Kreml betrachtet. Jeder andere Prätentend wird für eine Marionette gehalten.

Nur noch Ruinen

Tony Blair macht Belfast nicht dem Erdboden gleich, um die IRA zu vertreiben, Madrid setzt keine schwere Artillerie gegen die ETA ein. In Grosny dagegen, wo 1995 400.000 Menschen lebten, gibt es nur noch Ruinen: Seit Warschau 1944 ist sie die erste Hauptstadt in Trümmern. Clausewitz sagt, "das Gravitationszentrum" eines Konflikts kann der Prinz, die Armee und ihr Generalstab, der Sitz der Regierung oder, wie in Spanien gegen Napoleon, das "Volk" als Hort des Widerstandes, sein.

Die Tschetschenen fallen wohl unter die letztere Kategorie, die eines Krieges, der gegen die Zivilbevölkerung gerichtet ist. Wer den Verlauf des Konflikts voraussagen will - Widerstand oder Kapitulation - muss mit jenen sprechen, auf deren Rücken er ausgetragen wird. Die Antwort geben die Menschen in den bombardierten Dörfern, die Mütter, die ihre gefolterten Kinder suchen, die Herumirrenden auf der Suche nach Medikamenten, die es nicht gibt. Diejenigen, die über den Ausgang des Konfliktes entscheiden sind die Ärmsten der Armen, übersehen in den verherrlichten politischen Strategien, mit denen uns Moskau in den Ohren liegt.

aus der von den russischen Truppen weitgehend verwüsteten Kaukasusrepublik

Bericht über die Wiederkehr der Dämonen

Die Kreml-Experten haben aus der bitteren Niederlage von 1996 eine Lehre gezogen: Zerstörung aus sicherer Entfernung ist erlaubt, der direkte Kampf, Mann gegen Mann ist zu vermeiden, da der Gegner moralisch motiviert und körperlich überlegen ist. Flächendeckende Zerstörung, Verteidigung von militärischen Stützpunkten, um das Beste aus einem feindlichen Territorium an sich zu raffen. So rationell alles geplant sein mag, dieses Vorgehen hat eine Unbekannte: Wie reagiert die gequälte Bevölkerung?

Was diesen Punkt anbelangt, tappen die brillanten Strategen des FSB im Dunkeln. Um auch nur annähernd eine Antwort zu finden, müssten sie ihr Büro, ihre Dienststellen verlassen und mit wem auch immer in einen Dialog treten. Ich habe das gemacht, sie nicht. Sie können es nicht. Der Henker zählt nicht auf die Offenherzigkeit seines Opfers.

Schade, Super-General Trotschow, dass Sie mich nicht auf meinen Wanderungen im Untergrund in dem von Ihnen "befreiten" Land begleitent haben. Sie hätten feststellen können, auf welch wackeligen Beinen Ihre Glaubwürdigkeit steht. Alle Mütter weinen hier, lautlos. Ich würde dem Super-General gerne die beiden "Verbindungsleute" vorstellen, immer fröhlich und unermüdlich, blond und brünett, der Erinnerung meiner frühesten Kindheit entstiegen, oder einer Wahnvorstellung der französischen Résistance, gesehen mit den Augen eines Komödianten. Sie erzählen ihre Geschichten mit diesem unnachahmlichen Humor der Tschetschenen, wenn sie über die Russen sprechen.

Es tut weh, die Opfer zu sehen. Sie sollten ihre schönen von Abscheu gezeichneten Gesichter sehen, wenn sie, ohne es zu wiederholen (Tschetschenen wiederholen sich nicht) die Folterungen erwähnen, die Sie, mein General, verantworten. Andere würden Ihnen von den verletzten Gefangenen erzählen, die man sich selbst überlässt, mit aufgelöstem Verband.

Zäh und zynisch

Schade, dass German Gref mich nicht auf einen Bazar von Daghestan begleitet hat. Gewohnt, höflich empfangenzu werden, hätte sich der führende Ökonom Putins einer Öffentlichkeit gegenüber gesehen, die zäh und zynisch ist. Business is business, alle möglichen Akteure bevölkern die Märkte des Kaukasus. Frauen, die zu Fuß oder per Auto die Grenzen überqueren, um zu kaufen und zu verkaufen, vom den Preisunterschieden ihre Vorteile ziehen. Junge Bengel, gekleidet in Adidas und Nike, echt oder unecht. Ein Baby kostet 100 Dollar, die Mutter muss den Rest der Familie ernähren. Eine andere legt ihr Kind auf dem Auto eines glücklicheren Landsmannes ab. Das wäre doch eine fabelhafte Gelegenheit für den wendigen Herrn Gref, der von einem Umschwung spricht und einem Wirtschaftswachstum von fünf Prozent, das zehn Jahre anhält.

Die wunderschönen offiziellen Versprechungen von Frieden und Eintracht werden mit ironischer Gelassenheit zur Kenntnis genommen. Niemand im Kaukasus kann den wirtschaftlichen Niedergang übersehen, die Umweltverschmutzung, den sozialen und moralischen Verfall. Man träumt von den sauberen Städten Westeuropas und von einem Mindestmaß an Handelsgesetzen, die ein Wirtschaftsleben zumindest wie in der Türkei ermöglichen.

Putin hat die Methoden, die in Grosny erstmals angewendet wurden, als exemplarisch bezeichnet. Er erhebt das tschetschenische Martyrium zum Paradigma für die Wiederherstellung der Autorität, zum Modell für die so gepriesene "Diktatur des Gesetzes", die durch das Gesetz der Diktatur garantiert wird. Den tschetschenische Aufstand niederzuschlagen, um wieder Ordnung in den russischen Köpfen zu schaffen, diese Lektion wird urbi et orbi verbreitet: Schaut her, was die Schlecht-Denkenden erwartet, kehrt zurück in die Reihen!

Dieses Erziehungsprogramm für das Volk ist nicht neu, man denke nur an die brutale Auslöschung der Kaukasier durch die Truppen des Zaren. Tolstoj schildert die Freude von Nikolaus I., als er den Kopf des enthaupteten Rebellenführers Hadji Mourat erhielt. Solange man Ansteckung durch den tschetschenischen Stachel fürchtet, ist die Ordnung in Russland auf einem Geist der Unterwerfung begründet: Stalin dachte darüber nicht anders.

Es ist unmöglich, sich unter der Flagge einer scheinbaren Unparteilichkeit von zwei Gegnern, die in ihrer Art zu leben und zu kämpfen so verschieden sind, gleichermaßen zu distanzieren. Die letzten Selbstmordkommandos bestätigen das. Einerseits schlägt eine übergerüstete Armee aus der Ferne ins Volle zu: Ich will nicht sterben, also töte ich irgendjemanden.

Umgekehrt ist die Zielscheibe der "Selbstmörder" extrem präzise: Kasernen der Spezialtruppen, lokale Führungsstäbe, Folterzentren. Die "Bojewki" akzeptieren den Tod, um nur genau ausgewählte Orte zu treffen und nur Kriminelle zu exekutieren. Es geht darum, die Folterknechte niederzuschlagen und den terroristischen Apparat zu terrorisieren. Nicht gerade ein Bravourakt. Hat auch nichts mit den menschlichen Bomben gemein, die in den überfüllten Bussen in Tel Aviv hoch gehen.

Am Telefon verhehlt Präsident Maschadow jedoch nicht seine Besorgnis, denn "man kontrolliert keinen Selbstmord". Die Sufi-Religion schließt aus, dass ein Selbstmord am Friedhof endet. Die Verbote lösen sich auf, wenn Soldaten plündern und Kinder vor den Augen ihrer Eltern oder die Eltern vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigen. Wut und Verzweiflung werden die Grenzen eines Terrorismus sprengen, der bislang bemüht war, die Schäden zu begrenzen. Es gibt in Russland Atomkraftwerke in Reichweite von Desperados, die ganz verrückt vor Leid sind - und zu allem entschlossen. Die Eskalation ins Unkontrollierbare wird die Tschetschenen teuer zu stehen kommen, aber auch die Russen und ganz Europa.

Ein absichtlich herbeigeführtes Tschernobyl wird möglich, wenn nicht wahrscheinlich, je mehr der Kreml zerstört, demütigt und erklärt, dass ihm alle Schläge erlaubt seien. Nicht weniger selbstmörderisch haben die Generäle der Roten Armee, nunmehr Generäle der russischen Armee, ihren jämmerlichen Ausflug in Afghanistan falsch eingeschätzt. Erneut spielen sie pyromanische Feuerwehrleute, säen Zerstörung und wundern sich, wenn in den Trümmern die Extremsten das Kommando an sich reißen.

Meinem verstorbenen Freund André Frossard verdanke ich die elegante Definition, die er für das absolute Verbrechen vorschlug: "Jemanden umzubringen unter dem Vorwand, dass er geboren ist." Geboren als Armenier. Als Jude. Als Zigeuner. Als Tutsi. Nuancieren wir. Von Genozid spricht man, wenn der Mörder plant, alle "Schlechtgeborenen" ohne Ausnahme zu töten. Von "nur" einem Verbrechen gegen die Menschheit spricht man, wenn der Mörder sich darauf beschränkt, irgendjemanden zu töten.

Der russische Führungsstab hat nicht die Möglichkeit, die gesamte tschetschenische Bevölkerung auszuradieren (drei Viertel leben in der Diaspora). Selbst wenn den kriminellen Regungen voller Lauf gewährt wird, findet kein Genozid statt. Aber ein gigantisches Ghetto wird eingerichtet, in dem Bomben und Schussgefechte erlaubt sind und den massakrierenden Truppen Straffreiheit gewährt wird.

Belgrad hat die Kosovaren über die Grenzen vertrieben. Moskau regelt das Schicksal seiner Rebellen vor Ort, ohne Kamera. Der demokratische Westen schließt die Augen, erleichtert, denn kein Flüchtlingsstrom bedroht die vorgeblichen Schwellen der Toleranz.

Nachdem der ursprüngliche Enthusiasmus abgeklungen ist, geben die im Dienstgrad aufgerückten Strategen gerne zu, dass das Schließen des tschetschenischen "Lochs" einige Jahre dauern kann. Ich befürchte, es handelt sich um eine Versuchsanodnung. In Moskau wie in Petersburg weiß die Führungselite sehr wohl, dass Russland noch lange wirtschaftlich abhängig bleiben wird. Obwohl es seine Rohstoffe verschleudert, auf die Vorschüsse des IWF setzt und den Krediten aus dem Westen nachweint, ist Russland jedoch kein Land der Dritten Welt. Gehandikapt in seinen Produktionskräften, spielt es sein eindrucksvolles Arsenal an zerstörerischen Waffen aus. Im internationalen Kräfteverhältnis steht das Zerstörungspotential an erster Stelle, es braucht nur eine Macht, die Unordnung auf der Welt zu erhalten und zu propagieren. Herr Putin hat gerade unter Beweis gestellt, dass ihn weder Skrupel noch internationale Abkommen zurückhalten. Der Beweis ist Tschetschenien.

Der Plan über die Rückeroberung Grosnys, der den Aufstieg von Jelzins Nachfolger sichern sollte, wurde bereits 1997 von der Oligarchie Beresowskis gefasst, der die Wahhabiten bezahlte, die den Krieg auslösen wollten. Die einen gegen die anderen zu mobilisieren, Öl ins Feuer zu schütten, die Eskalation der Extreme zu fördern, Köpfe, Herzen und Straßen in Flammen zu setzen, die kleinen Lieblingsspiele der Dämonen von Dostojewski, kündigte bereits Lenin an. Er holte die Kastanien aus dem Feuer und es gelang ihm, einen Teil der Welt-Intelligentsia zu korrumpieren. Man kann sich gut vorstellen, wie die nun ihrerseits verführten Banken und Geschäftsleute der geistigen und finanziellen Korruptionsmaschine der neuen Besessenen in Moskau schlecht Widerstand leisten werden.

Kreuzzug

Einerseits unterstützen Beresowski und Konsorten die Islamisten. Andererseits brüsteten sie sich mit der Entführung des kleinen Scharon, der zur richtigen Zeit freigelassen wurde. In dieser entsetzlichen Angelegenheit gab es keine Spur von Tschetschenen, wohl aber wurden fünf junge Russe arretiert. Mit Hilfe des Fernsehens wurde diese widerliche Entführung der Welt als ein Komplott der Islamisten dargestellt. Und die internationalen Kommentatoren stimmten eifrig in diesen Chor mit ein, der nichts anderes ist als ein Ausdruck des jüdisch-christlichen Kreuzzugs gegen den Djihad de internationalen Terrorismus, dessen Zentrum Tschetschenien ist.

Ein Interessenskonflikt teilt die Führungsmannschaft. Die Erben der altstalinistischen Organe setzen alle Mechanismen ein, um jene für ihre Zwecke zu manipulieren, die unter einem entwürdigenden Leben jede Hoffnung verlieren. Die Oligarchen, mit den vollen Taschen und ihren guten Beziehungen zu westlichen Kreditinstituten, machen sich unentbehrlich. Und alle Protagonisten berufen sich auf das Gesetz und werfen dem anderen unlauteren Wettbewerb mit mafiosen Praktiken vor. Der Ausgang ist ungewiss, nach außen hin ist man solidarisch, aber jeder wetzt schon das Messer.

Instabilität als Chance

Eine derartige Instabilität ist eine Chance sowohl für den tschetschenischen Widerstand als auch für den Druck aus dem Westen, so es ihn gibt. Und doch könnte dieses Abenteuer, wenn man nicht aufpasst und die Verzweiflung überhand nimmt, in eine "Gaunerkratie" kippen. Es lebe der Krieg - dem Putin seinen Thron verdankt, die Armee ihre Rehabilitierung und die Superreichen eine Immunität `a la Jelzin. Still und leise genießen die Neureichen die Freuden der Zerstörung und die Sicherheit, die sie ihnen gibt. Nur zu gerne würden sie alles tun, um einen Dauerzustand des Krieges anzuordnen, solange die Bevölkerung die Last des Krieges trägt und der Westen die Kosten.

Das offizielle Russland feiert seine Gedächtnislücken. Im Krieg gegen Tschetschenien spielt es mit seiner spirituellen Zukunft. Wird Russland eine schmutzige und bösartige Geschichte weißwaschen? Wird das Land alles auslöschen und von vorne beginnen? Der russische Polizist, der mich ein Stück Weges mitnahm, schüttelte mir beim Abschied die Hand und sagte ganz unvermutet: Danke für das, was Sie tun. Ich ließ den Stacheldraht hinter mit, in Paris wartete auf mich Lermontovs Gedicht, das er vor 200 Jahren schrieb:

Lebwohl, mein ungewaschenes Russland,/ Du Volk der Sklaven und der Herren!/ Fahr hin, du Bückling, Kniefall, Kusshand,/ Dreimaster, Uniform und Stern!/ Der Kaukasus wird mich verbergen,/ Und dort entdeckt mich nicht perfid/ Das Ohr und Auge deiner Schergen,/ Das alles hört und alles sieht!
(Im Versmaß des Originals von Friedrich Fiedler übersetzt, Philipp Reclam jun. Leipzig).

Philosophische Studien bereiten schlecht auf die Suche nach der Wahrheit vor. Die Geheimhaltung rund um den Tschetschenien-Krieg begünstigt Gräueltaten. Der Übeltäter arbeitet im Schatten, die Straßenlaternen schützen den Passanten. Betrachten Sie mich als Taschenlampe.