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Demonstranten stellten Kerzen an jener Stelle auf, an der der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink am Freitag ermordet wurde. Auf dem Plakat steht "Wir sind alle Hrant und Armenier".

EPA/TOLGA BOZOGLU
Istanbul/Washington/Eriwan - Tausende Menschen haben am Freitagabend in der Türkei gegen die Ermordung des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink protestiert. In Istanbul versammelten sich rund 2.000 Menschen zu einer spontanen Kundgebung auf dem Hauptplatz der Metropole. In der Hauptstadt Ankara folgten rund 700 Menschen einem Aufruf von Menschenrechtgruppen und Gewerkschaften und gingen auf die Straße. Hunderte Polizisten der Anti-Aufruhreinheit waren im Einsatz, um Zusammenstöße zu verhindern.

Während der Kundgebung in Istanbul skandierten Sprechchöre immer wieder: "Wir sind alle Hrant Dink, wir sind alle Armenier". Einige trugen Fotos des ermordeten Journalisten bei sich. Sie wollten anschließend gemeinsam zum Tatort marschieren, wo sich schon vorher hunderte Trauernde eingefunden hatten.

Auf offener Straße erschossen

Dink war am Freitag auf offener Straße in Istanbul erschossen worden. Der 53-jährige Herausgeber einer türkisch-armenischen Wochenzeitung hatte sich stets für die Rechte der armenischen Minderheit in der Türkei eingesetzt. Weil er das Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs als "Völkermord" bezeichnete, wurde er von der Justiz verfolgt. Von radikalen Nationalisten wurde er angefeindet. Sein Anwalt Erdal Dogan berichtete dem türkischen Nachrichtensender CNN-Turk, sein Mandant habe trotz mehrfacher Drohungen keinen Polizeischutz angefordert.

Dink wurde mit drei oder vier Schüssen in Kopf und Hals getroffen, berichteten türkische Nachrichtensender. Er sei auf der Stelle tot gewesen. Die tödlichen Schüsse fielen, als der Journalist das Gebäude seiner Zeitung im europäischen Stadtteil Sisli in der Nähe des Galatasaray-Stadions verließ.

Attentäter angeblich identifiziert

Die Polizei nahm drei Verdächtige fest, berichtete die halbamtliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Istanbuls Gouverneur Muammer Huler. Zuvor hatten türkische Fernsehsender berichtet, dass die die Identität des geflüchteten mutmaßlichen Attentäters feststehe. Ein etwa 18-Jähriger sei über Aufnahmen einer Sicherheitskamera als Täter identifiziert worden.

Erdogan: "Angriff auf Frieden und Stabilität der Türkei"

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete den Mord an Dink als Angriff auf den Frieden und die Stabilität seines Landes bezeichnet. In einer von mehreren Fernsehstationen übertragenen, eilig einberufenen Pressekonferenz sagte Erdogan, "blutige und dunkle Hände" hätten Dink ermordet. Er drückte dessen Familie und den armenischstämmigen Bürgern sein Beileid aus.

Erdogan versicherte, man werde alles tun, um die Hintermänner des Anschlags so bald wie möglich ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. Angesichts der Morddrohungen, die Dink in letzter Zeit erhalten haben soll, erklärte der Premier, der Verleger habe keinen Polizeischutz verlangt. Unterdessen wurde laut Anadolu bekannt, dass den Justizbehörden der nordwesttürkischen Stadt Bursa keine offiziellen Dokumente übermittelt worden waren, nachdem Dink der Staatsanwaltschaft des Istanbuler Stadtteils Sisli über eine aus Bursa abgeschickte E-Mail mit Todesdrohungen berichtet hatte.

Nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi zeigte sich auch Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer entsetzt über den Anschlag auf den Herausgeber des zweisprachigen Wochenmagazins "Agos" in Istanbul.

Attentat dürfte Spannungen erhöhen

Das tödliche Attentat dürfte die politischen Spannungen in der Türkei erhöhen, die einen Beitritt zur Europäischen Union anstrebt. "Hrant war ein perfektes Ziel für diejenigen, die die Demokratisierung der Türkei und den Weg in Richtung EU blockieren wollen", sagte "Agos"-Redakteur Aydin Engin der Nachrichtenagentur Reuters.

Der deutsch-türkische Grünen-Prolitiker und Europaabgeordnete Cem Özdemir bezeichnete den Mord am Freitag in einem Interview mit "Spiegel Online" als Anschlag auf die liberalen Kräfte. Die Hintermänner seien in der türkischen Justiz und Verwaltung am Werk, die mit allen Mitteln den Weg in die EU torpedieren wollten.

"Provokation für die Nationalisten

Mit seinen Auftritten habe Dink die durchschnittlichen Türken erreicht, so Özdemir. Seine Worte seien deshalb viel explosiver als die eines radikalen Vorkämpfers gewesen. "Wenn er im Fernsehen war, meldeten sich Hunderte Zuschauer mit Fragen und eigenen Erfahrungen bei Dink, manche offenbarten plötzlich ihre eigene armenische Vergangenheit oder die ihrer Vorfahren. Er war eine lebende Provokation für die Nationalisten", so Özdemir, aber auch für die Armenier, da er in der Türkei lebte und an die Reformierbarkeit des Landes glaubte.

Die ideologischen Hintermänner vermutet Özdemir in der Ecke der Nationalisten. Alle, die Nationalismus geschürt und Hass gegen religiöse und ethnische Minderheiten verbreitet hätten, seien mitschuldig. "Übrigens auch nicht wenige Journalisten", fügte der Grünen-Politiker hinzu.

Getragen werde der Nationalismus in der Türkei vom Justizapparat, Teilen der Sicherheitskräfte - "der ganze Teil der Verwaltung, der den Weg der Türkei nach Europa nicht will". Diese Kräfte würden bei einer weiteren Demokratisierung ihre Position und ihre Pfründe bedroht sehen und seien zu allem bereit. "Wer Hrant Dinks Erbe bewahren möchte, tut das am besten dadurch, dass er seinen Weg fortsetzt: Demokratisierung der Türkei auf dem Weg nach Europa", formulierte Özdemir.

1954 geboren

Dink wurde 1954 in Malatya im Südosten der Türkei geboren. Er war Mitglied der kleinen armenischen Gemeinde des Landes. In einem Reuters-Interview im vergangenen Jahr erklärte er, er werde die Türkei trotz der Anfeindungen dort nicht verlassen. "Wenn ich gehen würde, würde es mir so vorkommen, als wenn ich das Volk bei seinem Kampf für Demokratie allein lassen würde. Dies wäre ein Verrat."

Wegen "Beileidigung des Türkentums" verurteilt

Wegen seines Engagements für die armenische Minderheit in der Türkei war Dink im vergangenen Jahr in Hamburg mit dem Henri-Nannen- Preis für Pressefreiheit 2006 ausgezeichnet worden. Laut Fernsehberichten soll Dink Todesdrohungen erhalten haben. In der Türkei sah sich der Journalist Anfeindungen nationalistischer Kreise ausgesetzt. Wegen eines Artikels über armenische Identität wurde Dink wegen "Beleidigung des Türkentums" zu einer Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Das Urteil war im vergangenen Jahr vom obersten Gericht der Türkei bestätigt worden.

Wegen desselben Delikts drohte dem Journalisten ein weiterer Strafprozess, nachdem er die Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg in einem Interview als "Völkermord" bezeichnet hatte. Das Ergebnis der Armenier-Vertreibungen im Osmanischen Reich spreche für sich, hatte er darin gesagt: "Wir sehen, dass ein Volk, das 4000 Jahre auf diesem Boden gelebt hat, ausgemerzt worden ist." Der Anklage lag der von der EU als Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei heftig kritisierte Paragraf 301 zu Grunde, der für Beleidigung des Türkentums Haftstrafen von bis zu drei Jahren vorsieht.

Auch Pamuk wegen Paragraph 301 vor Gericht

Wegen dieses Paragrafen waren in der Türkei auch der diesjährige Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und die Schriftstellerin Elif Shafak vor Gericht gestellt worden. Das Verfahren gegen Pamuk war eingestellt, Shafak freigesprochen worden. Beide hatten sich mit der Frage eines Völkermordes an den Armeniern auseinander gesetzt - ein Vorwurf, der von der Türkei heftig bestritten wird und noch heute weitgehend ein Tabu-Thema ist.

Zwischen 1915 und 1917 waren nach armenischen Angaben mehr als 1,5 Millionen Armenier ums Leben gekommen, nach türkischen Angaben zwischen 250.000 und 500.000. Die türkische Regierung lehnt die Einstufung der Verbrechen als Völkermord ab. (APA/dpa/Reuters/red)