Jarvis Cocker, der große Überlebende des 1990er-Brit-Pop, wirft sich in der Wiener Arena in einen Song

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Wien - Jarvis Cocker ist Gott! Was der geneigte Fan des britischen Lumpen-Dandys mit der Krankenkassenbrille ohnehin längst als Weisheit mit ins Konzert brachte, belegte selbiger in einer guten Stunde Konzert als Höhepunkt der Festlichkeiten anlässlich des zwölfjährigen Bestehens des ORF-Radiosenders FM4 vergangenen Samstag.

Mit rarer Verve und Finesse, über die eben nur Dandys verfügen, nahm er sein Publikum bei der Hand und führte es durch eine Live-Inszenierung seines im Herbst veröffentlichten Solodebüts, lapidar Jarvis betitelt. Darauf gibt sich der frühere Frontmann der Britpop-Band Pulp, die mit dem Album Different Class 1995 zu Weltruhm gelangte, einmal mehr als akkurater Beobachter des Alltags mit seinen Seltsamkeiten.

Ekel und verhaltene Rachsucht

Ein künstlerischer Ansatz, den der seit einigen Jahren in Paris lebende Künstler bereits mit der Eröffnungsnummer Fat Children bestätigte. Darin wird er, der samt Brille und Frisur bestenfalls 53 Kilo auf die Waage bringen dürfte, Opfer gehässiger fetter Bälger, die ihn wegen seines neuen Mobiltelefons ins Jenseits befördern: "Fat children took my life", singt er in einer herrlichen Mischung aus Ekel und verhaltener Rachsucht.

Mit einer derartige Gefühlsregungen wunderlich verdeutlichenden Körpersprache, die den abgeklärten Popstar ebenso abbildete wie den ewigen, auf den Monitorboxen schlecht surfenden Nerd, verbreitete er mehr Stimmung als die geradlinig auf Feierabendlaune spielenden Fratellis, die zuvor enttäuschten. Deren hochmoderner Revivalrock - eine Mischung aus Glamrock und 1980er-New-Wave - wurde mit der Emphase pragmatisierter Beamter bei der Dienstleistung kurz vor der gesetzlich vorgeschriebenen Mittagspause dargeboten: Mahlzeit! Was auf Platte nicht uncharmant klingt, wurde live ohne Mehrwert heruntergeholzt. So jung und schon in Pension.

Cocker, der bei dem traditionell als Open Air veranstalteten Konzertreigen zuerst Sakko, dann die Fünf-Uhr-Tee-Weste ablegte und am Ende gar hemdsärmelig auftrat, gab dagegen den begnadeten Entertainer, den Dean Martin des Postpunk. Eine Figur, die man sich als Conferencier in einem abgetakelten britischen Strandhotel vorstellen kann, wo er die wenigen vor der Winterpause noch anwesenden Nachzügler unterhält, als stünde er in einem goldenen Palast in Las Vegas.

Mit fünfköpfiger, souverän agierender Band gab er das bombastische Don't Let Him Waste Your Time, schlurfte mit der ihm eigenen Nonchalance durch das den Umständen entsprechend anachronistisch wirkende Heavy Weather, seufzte From Auschwitz To Ipswich und versuchte sich bei Tonite selbst an der Akustikgitarre. Davor kündigte er an, dass es in diesem Lied darum ginge, dass für alle Menschen jede Nacht die Nacht ihres Lebens sein könnte - vorausgesetzt, sie würden sich dem Leben entsprechend aussetzen. So viel Lebensberatung musste sein. Später folgte - das vorsorglich allen Anwesenden explizit nicht gewidmete - Cunts Are Still Running The World, in dem Cocker seine Abscheu vor den herrschenden politischen Verhältnissen formulierte.

Wanna rock? Gegen die eigenen Verhältnisse legte der einzig wahre Cocker schließlich die letzte Zugabe an: Nachdem er sich auf die Frage "Do you wanna rock?" Zustimmung aus dem Publikum geholt hatte, gab er noch eine beherzt genialische Version von einem der zehn besten Songs aus dem harten Rock: Paranoid von Black Sabbath. Groß und schmächtig! (Karl Fluch, DER STANDARD Printausgabe, 22.01.2007)