Tallinn/Moskau – Als Pragmatiker mit steinerner Miene werden die Esten von Kennern des Baltikums beschrieben: Fast introvertiert seien sie, jedenfalls stur – aber hervorragende Geschäftsleute und kühl kalkulierend. Das Land hat sich in den vergangenen Jahren wirtschaftlich musterhaft entwickelt. Nun hat es ein heißes Kapitel seiner Vergangenheit angefasst. Am Samstag trat das neue Gesetz „Über den Schutz von Kriegsgräbern“ in Kraft. Fortan können auf Entschluss des Verteidigungsministers Denkmäler aus der Sowjetzeit abgetragen und sowjetische Soldaten, die bei der Befreiung Estlands von der national_sozialistischen Okkupation gefallen sind, exhumiert und auf Armeefriedhöfe umgebettet werden.

Patriotische Punkte

Betroffen ist in erster Linie das Bronzedenkmal für den „Roten Befreiungssoldaten“ in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Das Monument war bereits mehrmals von national-radikalen Gruppen verunstaltet worden. Die Regierung begründete ihren Schritt denn auch mit der Sorge um die öffentliche Sicherheit. Gewiss, die mitregierende Reform_partei spekuliert auf patriotische Punkte bei den Parlamentswahlen im März. Laut außenpolitischem Ausschuss der russischen Duma stehen in Estland 400 sowjetische Denkmäler, mehr als 50.000 Soldaten sind im Land begraben.

Das Gesetz löst jedoch vehemente Reaktionen bei der russischsprachigen Bevölkerung in Estland und in Russland selbst aus. Die Duma schreibt in einer Resolution gar von einer „Verherrlichung des Nazismus“ und fordert Sanktionen. Präsident Wladimir Putin wertete Estlands Schritt als „gefährlich und kurzsichtig“. Für Estland ist dies umso mehr der Beweis dafür, dass der sowjetische Geist in Putins Reich fortwirkt. Fundamental sind die Auffassungsunterschiede beider Länder, was den Zweiten Weltkrieg betrifft.

Die jetzige russische Staatsmacht geht nicht konform mit der estnischen – wie auch lettischen und polnischen – Auffassung, dass auf Hitlers Diktatur jene Stalins folgte, dass Stalin die baltischen Staaten besetzen ließ und der Hitler-Stalin-Pakt – in dessen ge_heimem Zusatzprotokoll Osteuropa auf- und das Baltikum Stalins Einflussgebiet zugeteilt wurde – zu verurteilen sei. Putin schloss ein solches Reuebekenntnis aus. (Eduard Steiner, DER STANDARD, Printausgabe, 23.1.2007)