Karl-Markus Gauß hielt diesen Vortrag zum Fest "20 Jahre Sexualberatungsstelle Salzburg". Im März erscheint sein Journal "Zu früh, zu spät" (Zsolnay Verlag)

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Die Illusion der 68er, dass man ausgerechnet über die Sexualität die Gesellschaft verändern könne, war gar keine: Es ist nur eine andere Gesellschaft herausgekommen, als sie gedacht haben. Über Sex und Internet, Zwang und Ironie.

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1. Vorspiel

Getrieben von einem hemmungslosen Verlangen, das mich manchmal überkommt, schaltete ich vor ein paar Wochen den Fernseher an, um mich von der Sendung Seitenblicke in meiner Vermutung bestätigen zu lassen, dass die Welt noch die alte sei und es folglich keine Rechtfertigung gebe, meinen vorschnellen Frieden mit ihr zu schließen. Als ich in die von mir aus selbstverletzender Bosheit gewählte Sendung geriet, war eine junge, hübsche Frau gerade dabei, eine interessante Frage zu beantworten. Der Reporter, der sich womöglich bereits selbst für einen solchen hielt, wollte von der Schauspielerin Elke Winkens wissen, wie ihr Traummann beschaffen sei. Sie dachte kurz nach und sagte dann schnippisch: "Halb Softie, halb Macho." Sogleich begann sie zu kichern, aber nicht so, wie in den Seitenblicken alle kichern, nach Art des pflichtgemäßen Frohsinns, sondern auf die nicht unsympathische Weise eines Menschen, der bemerkt, dass er gerade etwas von sich preisgegeben hat, ohne es beabsichtigt zu haben, kurz: Es handelte sich um jenes Kichern, mit dem wir unsere Betretenheit übertönen wollen, aber bei Strafe damit erst auf diese aufmerksam machen.

Halb Macho, halb Softie, diese Definition eines Mannes, von dem selbst eine umschwärmte Schauspielerin schwärmt, gab mir einiges zu grübeln auf. Ich drehte die Sache hin und her und konnte sie mir endlich nicht anders erklären, als dass es sich bei einem Traummann um so etwas wie ein Raubtier mit moralischen Vorbehalten handeln muss, das beim Frühstück bitterlich darüber greint, sich in der Nacht gar so wild aufgeführt zu haben.

Ich überlegte, ob es sich bei Traumfrauen womöglich um ähnliche Wesen handle, und versuchte ein paar meiner Freunde auszuhorchen. Ich hoffte auf Antworten wie: "Ehrlich gesagt, richtig scharf bin ich auf den unterwürfig emanzipierten Typ, wenn du verstehst, was ich meine", aber nichts dergleichen bekam ich zu hören. Ich hatte aber auch kein Mikrofon und keine Kamera dabei, es war also möglich, dass mir meine Freunde jene Wahrheit vorenthielten, die heute immer sofort herausmuss, sobald die Beichte medial abgenommen und das Private der Öffentlichkeit übergeben wird.

2. Auf geht's

Gibt man der Suchmaschine Google die Stichworte "Sex und Beratung" ein, tut sich vor einem das Malheur nach einem Bruchteil von Sekunden in seiner schieren Grenzenlosigkeit auf; sieht man sich doch mit der Tatsache konfrontiert, dass über das Internet eine Million dreihunderttausend Dateien zu diesem Thema verfügbar sind. Wer sich umfassend mit ihm beschäftigen möchte, wird also mit einem Leben allein nicht auskommen, und das ist auch nur angemessen, denn mit dem Sex haben sich ja schon Generationen vor uns beschäftigt, ohne dass die Besserung eine definitive geworden wäre, ein endgültig erreichter Standard, hinter den zurückzufallen unmöglich ist, und werden sich nach uns noch Generationen beschäftigen, selbst wenn sich ihnen vielleicht ganz andere Anforderungen stellen als uns.

Als Arbeitshypothese konnte man nämlich bisher mit der nötigen Vereinfachung sagen, dass das Problem mit dem Sex damit zu tun hatte, dass sich die Menschheit in zwei Geschlechtern materialisierte, während wir möglicherweise einer fernen Zukunft entgegengehen, in der die Zweigeschlechtlichkeit durch eine vielförmig ausgefächerte Eingeschlechtlichkeit ersetzt sein wird; was, nebenbei, dadurch vorbereitet wurde, dass die Fortpflanzung technisch von der Sexualität abgekoppelt werden konnte und sich eines Tages die Menschen klinisch sauber, ganz ohne die Niedrigkeiten sexuellen Begehrens und die Widrigkeiten sexuellen Vermögens vermehren werden. Wenn es zu einer Art von multipler Eingeschlechtlichkeit kommen wird, wie manche Sexualforscher und futurologisch delirierende Genetiker meinen, und jeder und jede je nach Anlass, Laune, Obsession abwechselnd beides sein wird und keines mehr auf die alte Weise, Mann und Frau, wird damit tatsächlich vieles, womit die Menschen sich herumschlugen, seit ihr Jahresablauf nicht mehr von der Paarungszeit bestimmt wurde, bedeutungslos geworden sein; allerdings, möchte ich meinen, werden sie auch dann gewiss noch nicht mit sich ins Reine gekommen sein, sondern sich nur eine Reihe anderer von uns noch ungeahnter Probleme aufgehalst haben.

Eine Million dreihunderttausend Angebote von Beratung vor mir, begann ich der Ordnung halber mit der ersten, die Google mir empfahl. Sie ist unter dem Titel net.doctor.at zu erreichen, charakterisiert sich im Untertitel als "Das unabhängige Gesundheitsweb für Österreich" und erwies sich als so faszinierend, dass ich im Zuge meiner Recherchen niemals über sie hinausgelangte, sondern seither zu den tausenden Besuchern der täglich 24 Stunden lang abgehaltenen virtuellen Sprechstunden gehöre. Beim Net-Doktor kann sich, wer will, in eine nie abreißende Debatte über alle möglichen Aspekte des sexuellen Alltags- und Feiertagslebens einklinken und sowohl Fragen, die ihn persönlich betreffen, der allgemeinen Diskussion stellen, als auch sich in die oft über Wochen hin geführten Debatten mit eigenen Erfahrungsberichten oder Ratschlägen einmischen.

Worum es in diesen mit anonymer Offenherzigkeit geführten Debatten geht? Um Intimpiercing und Oralverkehr, die bequemsten Stellungen für Männer mit Übergewicht und die unbequemsten für Frauen, die sich nicht regelmäßig im Fitnessstudio gelenkig schwitzen, um neue sexuelle Erfahrungen, an denen man auch den unbekannten Nächsten teilhaben lassen möchte, und die Sprachlosigkeit zwischen altgedienten Partnern . . . ach, um unglaublich spezialisierte Dinge und solche von geradezu universaler Dimension.

Vor allem aber geht es um den Ernst des Lebens, den der erwünschte, geforderte und doch immer wieder verpasste und verpatzte Spaß am Sex darstellt; um eine fröstelnde Sachlichkeit, mit der die hitzigen Leidenschaften beredet werden; um den streberhaften Eifer, mit dem hier um die sexuelle Glückseligkeit gekämpft wird. Anita (47) und Gerhard (50) haben ein Problem. Sie bitten die versprengte Gemeinde der Net-Doktoren um Rat, der ihnen zahlreich, wenn auch vielleicht nicht eben hilfreich zuteil wird. 26 Jahre lang sind sie schon zusammen und können für ein glückliches Ehepaar gelten. Aber, sie müssen es sich eingestehen und tun es daher öffentlich: Seit ungefähr einem halben Jahr verspüren sie nur geringes Begehren, es miteinander zu treiben. Anita sagt, ihr gehe es gut, sie fühle sich ausgezeichnet und liebe ihren Gerhard, aber mit ihm zu schlafen, der doch seit 26 Jahren jede Nacht im Bett neben ihr schläft, das reize sie schon seit Monaten leider überhaupt nicht.

Gerhard geht es - man könnte sagen: praktischerweise - ebenso, er nennt sich rundum glücklich, und doch leidet er gleichfalls daran, seine Anita zwar zu lieben, ihr das derzeit aber lieber nicht mittels periodischen Geschlechtsverkehrs beweisen zu wollen. Den beiden un-agil Liebenden wird von geschätzten achtzig Ratgebenden allerlei und auch das Gegenteil davon empfohlen, unter anderem, dass sie es doch an einem gemütlichen Videoabend mit dem gemeinsamen Betrachten von Pornofilmen probieren mögen, dass sie das Bett flüchten und versuchen sollten, einander an ungewöhnlichen, gar an öffentlichen Schauplätzen in sexuelle Stimmung zu bringen, oder dass sie vereinbaren müssten, einander zu betrügen - was genau genommen ein seltsamer Betrug wäre - und den Schwung, den das Fremdgehen mit sich bringt, gewissermaßen ins heimische Bett hinüberzunehmen.

Ich sehe sie vor mir, wie sie einander im Dauergerammel des zweiten Pornofilms, den sie sich beflissen besorgt haben, erwartungsvoll anschauen: Jetzt? Oder wie sie, hinter Büschen eines stark frequentierten Parks aufreizend schlecht verborgen, zu jenem Verlangen zurückzufinden trachten, dessen sie in ihrem Bett entraten. Ja, wie ist den beiden, die verbissen bereit sind, sich helfen zu lassen, wirklich zu helfen? Keiner, der sich an der mit grimmigem Ernst geführten Debatte beteiligte, hat Anita und Gerhard gefragt: Sagt mal, wo ist eigentlich euer Problem? Denn so zu fragen hieße auf ihr öffentlich gemachtes Leiden einen Blick von außerhalb des Koordinatensystems werfen, in das offenbar alle eingefügt sind, die sich in die virtuelle Sprechstunde begeben. Anita und Gerhard waren vielmehr Anlass für einen heftigen, mit privaten, nationalen und internationalen Statistiken geführten Streit. Nadine (27) meinte, dass Anita und Gerhard es schon bald wieder auf zwei bis drei Geschlechtsakte in der Woche bringen sollten, sonst wäre es gescheiter, sich voneinander zu trennen. Thomas (wiewohl erst 22) befand hingegen, zwei- bis drei- mal im Monat wäre auch ausreichend. Und die alterslose Angela bekannte, ihr würden zwei- bis dreimal im ganzen Sommer genügen, im Winter aber benötige sie erheblich mehr.

Wie alles auf unserer Welt kann man auch den Sex quantifizieren, und so erfuhr ich von der Tatsache, dass der Hamburger Universitätsprofessor Sommer die Beischlaffrequenz der Generation der 18- bis 30-Jährigen untersucht hat. Lag diese vor dreißig Jahren noch bei passablen zwanzig Vollzügen im Monat, soll sie mittlerweile auf schlappe vier heruntergekommen sein. Dieser rasante Abfall wurde im Internet mit Befremden, aber durchaus nicht kontrovers, sondern gleich lautend mit der Forderung kommentiert, die Frequenz gefälligst wieder signifikant zu erhöhen. Der Appell, das Bruttolustprodukt durch vermehrte sexuelle Aktivität zu steigern, klang etwa so mitreißend wie in der beliebten Sendung "Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht" die Durchhalteparole, mittels rhythmischen Klatschens weiterhin seinen Teil zur nationalen Ausgelassenheit beizutragen.

Hat man den Diskussionen in der virtuellen Sexualberatungsstelle lange genug zugehört, kommt man unausweichlich zur Bilanz, dass wohl die Hälfte allen Leids, von dem dort geklagt wird, darin gründet, dass die Leute ein Gefühl des Versagens, der Niederlage, der Schmach empfinden, weil sie, gemessen an den Maßstäben, die sie sich zu Eigen gemacht haben, zu wenig sexuelle Aktivität zeigen und an dieser auch noch zu wenig Lust empfinden. Es ist, als wäre ihnen ein Plansoll der sexuellen Erfüllung aufgegeben, das zu verfehlen nicht weniger bedeutet, als ein langweilig verpfuschtes Leben zu haben. Wer zu wenige oder zu wenig originelle sexuelle Akte hinter sich bringt, ist in einer Welt, in der das Glück zum Produkt der Kulturindustrie normiert wurde, so verwerflich wie der, der zu viele Kilos auf die Waage bringt; und wie es gilt, den Körper nach vorgegebenem Maß zurechtzuschleifen, durch richtige Ernährung, leibliche Ertüchtigung, die nie erlahmende Energie, sich am Vorbild anderer zu orientieren, verlangt die sexuelle Zurichtung, dass die Leute sich, um ihres eigenen Glückes willen, in eine Art sexuellen Dauerbereitschaftsdiensts verfügen.

Wie die Gesundheitsindustrie mit ihren immer gesünderen Nahrungsprodukten eine stattliche Zahl von Essgestörten produziert, die das wenige, das sie hinunterbekommen, gleich noch herauskotzen möchten, hat die Sexualindustrie, die unseren Alltag unaufhörlich mit sexuellen Signalen durchflutet, erst jenen Typus erschaffen, für den die alte Warnung, er denke immer nur an das eine, ihre furchtbare Wendung genommen hat: Frauen und Männer, die ihm zugehören, müssen sich und ihren Therapeuten die Schmach eingestehen, dass sie gerade an das eine am liebsten gar nicht mehr denken; und vom Gedanken zur Tat ist es bekanntlich noch einmal ein weiter Weg!

Was früher, in der religiös reglementierten Gesellschaft, als Tugend geachtet wurde, ist jetzt als das letzte, das schimpflichste Laster geächtet: die Asexualität, die sich inmitten der durchsexualisierten Gesellschaft etabliert hat, die Lustlosigkeit in einer Epoche, in der der Spaß zur Pflicht geworden ist. Während nichts mehr oder doch fast nichts mehr verboten ist und noch jede Abweichung rasch als neue Marke, exotischer Schick Karriere macht, gebiert die hochgerüstete Freizügigkeit ihre desertierenden Kinder: die Unlust, Frigidität, Impotenz.

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3. Verzögerung

An dieser Stelle ist es angebracht innezuhalten, um weder den Eindruck zu erwecken, der einzige Grund, warum heute Menschen sexuelle Beratung suchen, wäre ihr Unvermögen, lustvoll den Angeboten der Lust folgen zu können, noch so zu tun, als wäre mir, was sie leiden, ein aparter Anlass, darüber zu spotten. Selbst in der virtuellen Welt ist von wirklichem Leid die Rede. Dieses Leid kann durchaus schicksalhafte Dimensionen haben, wenn etwa ein Fünfzigjähriger, bestens eingepasst in die kleinstädtische Honoratiorengesellschaft und scheinbar in seinem Familienglück gefestigt, so verzweifelt ist, dass er nicht mehr weiterweiß: und er endlich darangeht, das zu verändern, was er seit seinen Jugendtagen stets verändern wollte, sein Geschlecht.

Das Verhängnis, gewissermaßen in den falschen Körper geboren worden zu sein, er hat es anfangs nicht wahrhaben wollen, sich später dafür gehasst, ihm lange getrotzt und seine besten Jahre geopfert, jetzt will er, nein, muss er es wenden, den Skandal, den es gesellschaftlich bedeutet, in Kauf nehmen wie die Verstörung, die er bei seinen Kindern und seiner Frau damit auslösen wird.

Ihm zu sagen, mein Lieber, wo ist dein Problem, wäre herzlos, wie ich auch nicht die Not jenes dreißigjährigen Mannes kleinreden will, dem sich der Samen, allen Konzentrations- und Entspannungsübungen zum Trotze, wie in einer ewig verlängerten Pubertät doch immer nur präcox entlädt, oder jener Frau, die seit bald dreißig Jahren auf ihn wartet, von dem sie schon so viel Gutes gehört hat, sich aber sicher ist, ihm noch nie persönlich begegnet zu sein: dem Orgasmus. Der körperlichen Gebrechen, die den Sex misslingen lassen, gibt es gezählte, der psychischen Hemmnisse, seelischen Verknotungen aber zahllose, so viele nämlich, als sich die Fantasie des Scheiterns gerade ausmalen kann.

Gleichwohl. Wie sich das schmerzliche Scheitern in der Fantasie stetig erneuert und sich eben deswegen immer wieder zuverlässig ereignet, kann das Scheitern selbst ein Fantasma sein. Bietet denn alles, woran wir scheitern, bei dem wir eine Norm nicht erreichen, den Dreijahresplan nicht erfüllen, tatsächlich einen hinreichenden Anlass, es zur Krankheit zu erklären oder es als Unglück zu erleiden? Manch einer kann besser schwimmen als wir, hat eine Nase, wohlgeformter als die unsere, und sein Body-Mass-Index trifft genauer die Zahl, die neuerdings vorgegeben wird.

Bin ich krank, weil es bessere Schwimmer als mich gibt, muss ich behandelt werden, weil andere schönere Nasen haben, gehört mein Body auf den Index gesetzt oder unters Messer gelegt, weil er nicht exakt dem alle Jahre neu festgelegten Maß entspricht? Wenn bestimmte Leistungen nicht erbracht werden, ist es dann lebensklug, darauf zu beharren, dass man sie unbedingt erbringe? Gibt es nicht anderes, das einer zuwege bringt, auch im Bett, der vielleicht gerade das eine nicht zuwege bringt, und bringt er dieses andere womöglich gerade deswegen besser zuwege, weil er das eine nicht in seinem Repertoire hat? Warum sich also just auf das, Pardon: versteifen, wovor sie sich fürchtet oder was er nicht mag! Das Scheitern zählt zum Leben, und von des Lebens Baum fallen die Früchte des Zwangs gleichermaßen wie die der Ironie.

Ich weiß nicht, woraus das intellektuelle Handwerkszeug der Sexualtherapeuten besteht, aber ich stelle mir vor, es gehörte jedenfalls die Fähigkeit dazu, dem Einzelnen, der Rat sucht und Besserung begehrt, bewusst zu machen, dass er sich unter die Herrschaft eines Zwangs begeben hat und ihm durchaus die Alternative offen steht, den Zwang, den er über sich verhängt hat, selbst mittels der Ironie aufzuheben. Ironie ist nicht Verleugnung von Ungenügen und Scheitern, sondern Einsicht in die Relativität jener Maßstäbe, an denen Gelingen und Misslingen, Triumph und Niederlage gemessen werden. Lächerlich ist nicht das Ungenügen, sondern der Zwang, mit dem man ihm immer und überall entrinnen zu müssen glaubt; nicht dass jemand scheitert, ist lächerlich, sondern dass er stets funktionieren will.

Als vor vier Jahrzehnten die sexuelle Revolution ausgerufen wurde, glaubten wir es mit der befreienden Attacke auf die Menschen- und Lustfeindlichkeit einer Gesellschaft zu tun zu haben, der einzig Profit und Leistung etwas galten. Die seither modernisierte Gesellschaft, die freizügiger und effizienter zugleich organisiert ist, hat jedoch einerseits den Sex als Leistung integriert und sich somit dessen Anspruch, eine befreiende Kraft zu sein, zu Diensten gemacht, und sie hat andrerseits den Sex, inklusive der absonderlichsten Spielarten dessen, was man früher Perversionen nannte, kommerzialisiert. Damit ist die Lust auf die Leistung, die Abweichung auf die Marke, das Spiel auf den Ernst gebracht worden. Die Illusion der 68er, dass man ausgerechnet über die Sexualität die Gesellschaft selbst verändern könne, war gar keine: Es ist nur eine andere Gesellschaft herausgekommen, als sie selbst gedacht haben.

Mittlerweile können wir in den nachmittäglichen Talkshows Männern und Frauen dabei zusehen, wie sie in Lack, Leder und ländlichem Dialekt ihr interessiertes Publikum von den Vorzügen sadomasochistischer Rituale unterrichten. Frei von der alten Verklemmung, dass man über bestimmte Dinge nicht spreche, sind sie zugleich frei von jedem Skrupel, sich in den Medien als öffentlich begehbare Personen anzubieten, durch die man von einer Obsession zur nächsten flanieren kann. Es ist ihre rigorose Offenherzigkeit, mit der sie sich als radikale Spießer bewähren, die folgsam gerade das tun, was von ihnen erwartet wird, und die in ihrer Bekenntniswut nicht aufhören, öffentlich zu beichten, bis man ihnen das Licht und den Ton abdreht. So ist es mit der sexuellen Revolution höchst merkwürdig gekommen: Ihre Folgen der Freizügigkeit sind unübersehbar und haben doch mit Freiheit selten etwas zu tun.

4. Klimax

Irgendwann reichte es mir. Genau genommen riss mir die Geduld an einem Donnerstagabend, als bei meinem Net-Doktor gerade die Frage einer gewiss reizenden Bobo (31) verhandelt wurde, die da lautete: "Wie lange muss ich nach einer Mandeloperation mit dem Oralverkehr warten, um die Heilung nicht zu beeinträchtigen?" Unter dem genial gewählten Pseudonym Karl-Heinrich (52) warf ich mich endlich auch persönlich in die Debatte, und zwar mit dem Rat: "Liebe Bobo, warte mindestens so lange, bis die Narkose nicht mehr nachwirkt. Sonst könnte es geschehen, dass es der Falsche ist, dem du einen bläst."

Der Rat kam schlecht an, denn nicht nur wenn es um Mandeln und deren Operation, sondern auch wenn es um schlechten Sex und seine Besserung geht, verstehen die Leute keinen Spaß. Die Schelte, die auf Karl-Heinrich niederging, war gewaltig, aber sie bestätigte ihn in der Auffassung, zu der er unter all den Patienten des Net-Doktors gekommen war, dass es sich bei vielen von ihnen um Hypochonder handelte, die gar keine Heilung suchen, weil sie nicht in wirkliche Menschen, sondern in ihre eingebildeten Krankheiten verliebt sind.

Das wird in den Sexualberatungsstellen, die man nicht virtuell aufsuchen kann, sondern für die man die Peinlichkeit oder den Aufwand auf sich nehmen muss, sich persönlich hinzubequemen, vermutlich ganz anders sein. Und doch, stelle ich mir vor, wird es auch dort darum gehen, hypochondrisches Leid zu redimensionieren, bis es denen, die an ihm litten, als bloßes Ungemach, als periodisches Missgeschick, befristete Unpässlichkeit erträglich geworden ist. Psychoanalytisch geschulte Leute werden sich an Freuds berühmtes Diktum erinnern, dass die Analyse dem Menschen nicht reines Glück, vollendete Harmonie schenke, sondern nicht mehr vermöge, als aus neurotischem Unglück gewöhnliches Unglück zu machen. Man sage nicht, das sei wenig. Man sage nicht, es sei wenig, wenn die Leute, die die Beratungsstellen aufgesucht haben, diese nicht mit dem Gütesiegel für bessere Liebhaber verlassen, sondern als Menschen, die mit Unzulänglichkeiten besser auszukommen wissen.

5. Nachspiel

Zwei verdienstvolle Sozialwissenschafterinnen, Frigga Haug und Ulrike Gschwandtner, haben kürzlich 473 Schulaufsätze zum Thema "Mein Leben in zwanzig Jahren" untersucht. In ihrem Resümee zeigen sie sich ein bisschen enttäuscht darüber, dass es die Jugendlichen von heute gar so arg an Renitenz fehlen lassen. Die meisten der heranwachsenden Kleingeister wollen tatsächlich später eine feste Partnerschaft, zwei Kinder und beruflichen Erfolg haben! Und in ihren für Lehrer geschriebenen Aufsätzen geben die Gymnasiasten der siebten und achten Klasse fast gar nichts von ihren sexuellen Wünschen preis, sodass man glauben könnte, sie hätten gar keine, sondern nur familiäre, berufliche, finanzielle, touristische Lebensziele. Man kann bekanntlich den Fernseher nicht mehr aufdrehen, ohne mit den Bekenntnissen beliebiger Prominenter und Namenloser behelligt zu werden; wir alle stehen unter Dauerbeschuss, unsere Persönlichkeit nach dem Leitbild sexueller Fröhlichkeit zu erigieren, und wem das zu langweilig wird, dem stehen ambulante Onkel und Tanten in jeder Zeitung zu Rate, die darum werben, dass man heute doch über alles reden könne und solle, nein: müsse. Und auf einmal gibt es da rätselhafterweise Schüler und Schülerinnen, die es wagen, sich über ihre sexuellen Vorlieben und Wünsche ans Leben schlichtweg auszuschweigen. Kann man nicht genau das als eindrucksvollen Akt der Renitenz verstehen? Noch ist die Sinnlichkeit, die Sexualität nicht verloren: Es gibt sie, die Jugendlichen, die so frei sind, Geheimnisse zu haben, und die sich sagen: Nein, danke, ich möchte weder mit verständnisvollen Lehrerinnen noch mit kritischen Sozialwissenschaftern darüber reden, was nicht sie, sondern nur mich etwas angeht. Was die Sexualität und die Quantifizierung ihrer Freiheit betrifft, hat uns bessere Nachricht lange nicht mehr erreicht. (DER STANDARD Printausgabe, 27./28.01.2007)