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Karl Kraus.

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Ab 1. Januar 2007 ist das kritische Werk des großen jüdischen Schriftstellers Karl Kraus - wie man in Österreich sagt - "gemeinfrei". Die Schriften, Theaterstücke, Glossen und Aufsätze des 1936 verstorbenen Wiener Satirikers dürfen nachgedruckt, rezitiert und nachgespielt werden, ohne dass ein Obolus an Erben oder Verlag fällig wird. Mit demselben Datum hat die Österreichische Akademie der Wissenschaften die ganze Fackel für jedermann erreichbar ins Netz gestellt.

Sprachkritiker

Die Krausianer im deutschsprachigen Lande und in der ganzen Welt feiern diese Freigabe - auch diese Freigebigkeit - wie ein großes Fest, denn allzu beschränkt waren die Zugänge zum Fackelwerk bis heute, da die Germanistik den Dichter, der zusammen mit den großen Polemikern Lichtenberg, Lessing, Schopenhauer und Nietzsche den obersten Rang des Dichterparnass bewohnt, nur sehr stiefmütterlich behandelt hat. Im Westen kam immerhin in der Folge von 1968, wo man den Sprachkritiker politisch interessiert als Linken verkannte, eine Reprintausgabe der Fackel in unhandlichen, dicken zwölf Bänden beim 2001 Verlag zustande, in der DDR aber besann man sich spät erst auf eine blamable Notausgabe des bedeutendsten Werkes, nämlich der Tragödie Die letzten Tage der Menschheit.

Er war dort also wie im gesamten Ostblock, wo er sehr dringend gebraucht worden wäre, so gut wie unbekannt. Der Rest ist Suhrkamp, an diesen Verlag gingen zuletzt die Rechte, dort blieb er ein Fremder, dort wurde er nur sehr unzureichend betreut und mit vielen Druckfehlern post mortem noch gekränkt. Jüngst noch meinte Eva Menasse in der FAZ, Karl Kraus als einen "Wahnsinnigen" in seiner "Hölle" bezeichnen zu sollen. Kraus hätte auch die heutige "große Zeit", an der Frau Menasse und andere federführend teilhaben, in ihrem Wahn erkannt und wird dafür wieder mit der Retourkutsche bedacht (E. Menasse): "Jeder Publizist, der sich heute so unbeugsam, so eigensinnig, so hemmungslos kriegerisch verhielte wie Kraus, würde als Spinner betrachtet. Zu seiner Zeit war Karl Kraus ein Spinner."

Medienglanz

Dieses Urteil verfehlt alles, worum es ginge. Nämlich nicht um eine bekannte politische Moral, sondern um den Akt der Barbarei, der aus der Menschheit Menschenmaterial macht und das geringschätzt, was im utopisch-menschheitlichen Sinn als unberührbar galt. Die fragwürdige Kunst, "aus einem westfälischen Bauern im Nu einen Berliner Schieber zu machen", wurde seither noch beschleunigt und weiter fortentwickelt. Heute sind auch die Tiroler Skilehrer umgedreht zum Manager, oder sie stürzen in die Arbeitslosigkeit. Dagegen helfen keine Fakten, auch kein Relativismus, der das Unmenschentum vordatiert und heute die große Kultur im Medienglanz nur affirmieren kann. An der Kraus'schen Klarheit, an seinem Ohr, das auch die Phrasen heute mühelos enttarnte, werden die schicken Vertreter des "Geistbetriebs" bald ihre Ausnüchterung erfahren.

Denn auch die gegenwärtige Party wird weniger harmlos enden, als dies einige der Verwöhnten im Augenblick noch glauben wollen. Sie haben die wichtigste Lektion verpasst und das Propheten-Wort des Nörglers überhört: "Ich bewahre Dokumente für eine Zeit, die sie nicht mehr fassen wird oder soweit vom Heute lebt, daß sie sagen wird, ich sei ein Fälscher gewesen." Darum ginge es um ein Leben in der Sprache, die nicht vom morschen Gestern lebt. So redet Kraus noch heute, aktuell wie je, zu uns. Wir haben uns an vieles gewöhnt, was ihm das Herz zerrissen hat. Er hielt an einer Humanitätsvorstellung fest, die wir schon gar nicht mehr kennen.

Schablonenwelt

Karl Kraus passte auch nicht in die simple, schwarz-weiße Manichäerwelt des Kalten Krieges. Diese verlief sich so weit, dass der TV-Entertainer und Literaturpapst Marcel Reich Ranicki das wohl bedeutendste und nachhaltigste deutsche Drama, nämlich jene "Letzten Tage der Menschheit", noch nicht einmal in seinen so genannten "Kanon" aufnahm. Auch in germanistischen Vorlesungsverzeichnissen wird man den Namen Karl Kraus im Nachkriegsdeutschland kaum einmal verzeichnet finden. Während man für zeitgemäße, mediokre Schriftsteller aufwändige Editionen und Ausgaben finanzierte, ließ man sein Werk verwaist und schwer zugänglich links und rechts der Schablonenwelt des Kalten Krieges liegen. Mit einer Ausnahme der österreichischen Literatur, worin er eine verborgene, doch entscheidende Rolle spielt, die dieser Literatur bis heute ihren sprachlichen Vorrang verleiht.

"Kanonade auf Spatzen"

Aber die ganze Misere hat jetzt eine Ende. Endlich, jetzt geht's los, heißt es bei Jacques Offenbach, dem Kraus-Liebling: in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München, am 16. Januar zum Beispiel, mit einer "Kanonade auf Spatzen". Jens Malte Fischer, der bekannte Theaterwissenschafter, las Texte von Karl Kraus. Viele solche Veranstaltungen werden folgen.

Ab jetzt dürfen neue Ausgaben und Anthologien zusammengestellt werden, die das Werk für viele erst lesbar und erschließbar machen. Endlich wird es eine digitale Ausgabe der Fackel geben, die das Meer der Glossen, Invektiven, Satiren, Aphorismen und Kommentare zum ersten Mal übersichtlich und befahrbar macht. Jetzt wird allmählich klar werden, wen man da bisher versäumt hat, einen poetischen Mystiker der deutschen Sprache, einen Medienkritiker von bis heute unerreichtem Rang, dessen Scharfsinn und Fundamentalkritik an der Journalisierung allen Lebens, nicht nur der Literatur, gerade heute so notwendig geworden ist wie nichts anderes. Karl Kraus arbeitete zeit seines Lebens für die "Reprivatisierung des Innenlebens", wie Jerzy Lec, sein polnischer Geistesverwandter sagt.

Staatsgründungslegende

In seinem Werk stecken verborgene Schätze und Vermächtnisse, Korrekturen des historischen Materials, das man für gegenwärtige Interessen manipulierte. Jetzt wird sich zeigen, dass die miteinander verfeindeten Brüder Freud und Kraus sich in Wahrheit ergänzen, dass Kafka, wie die ganze deutsch-jüdische Kultur, mit Karl Kraus genauer und besser zu verstehen ist. Dem letzten Adorno-Anhänger wird klar werden, woher dieser seinen Stil und seine wesentlichen Erkenntnisse bezog. Die österreichische Staatsgründungslegende wird entrümpelt und zur Kenntlichkeit entstellt werden, wenn jetzt Die dritte Walpurgisnacht, der radikalster Text zum Dritten Reich überhaupt, erforscht und neu herausgegeben werden kann.

Jeder, selbst der naivste Leser, wird darin erfahren, was man tatsächlich alles schon 1933 wissen konnte, vorausgesetzt, man war wach und fähig, das Ungeheure in allen zugänglichen Zeitungen wahrzunehmen.

So ist es gekommen, und dass man Karl Kraus absichtsvoll vergaß, weil er den politischen Ideologen und Haudegen des Kalten Kriegs, die über die Poesie bestimmen durften, nicht in ihren Kram passte. Diese graue Nachwelt hat abgedankt, scheint gottlob seit Beginn dieses Jahres vorbei. (Von Wilhelm Hindemith/ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 27./28.1.2007)