Was ist eigentlich los bei den Spitzen der österreichischen Innenpolitik, fragte dieser Tage ein besorgter Leser an. Ist da kollektiv die Amnesie - ein Gedächtnisschwund - ausgebrochen? Er hat Recht.

So viel an Heuchelei, derart blanker Opportunismus wie in der Debatte um die Fotos von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, die dessen (frühere?) Nähe zur rechtsextremen Szene belegen, wurde schon lange nicht mehr an die Öffentlichkeit geschwemmt.

Erstaunlich, was die Änderung der innenpolitischen Großwetterlage - große Koalition statt einer Mitte-rechts-bis-ganz-rechts-Regierung - über Nacht bewirken kann. Was früher tabu war, ist heute möglich und umgekehrt.

Man stelle sich vor, das Ganze wäre vor acht Monaten passiert. Und ein ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hätte zu den Strache-Bildern lapidar erklärt, das seien "Jugendtorheiten", aus denen man dem Mann heute "keinen Strick drehen" solle, ganz so wie das sein Nachfolger Alfred Gusenbauer jetzt getan hat.

Der "Bär" wäre los gewesen, ein Sturm der Entrüstung - insbesondere aus der SPÖ-Zentrale - wäre ihm sicher gewesen. Klubchef Josef Cap hätte Schüssel ultimativ aufgefordert, die ungeheuerliche Nazi-"Verharmlosung" zurückzunehmen. Heute aber versteht Cap die Aufregung nicht.

Verkehrte Welt: Man stelle sich vor, der damalige Oppositionschef Gusenbauer hätte sich vor Jahren in Richtung der schwarz-blauen Koalition so geäußert, wie es sein Vizekanzler Willi Molterer heute tut: dass er bei der ÖVP die "notwendige Trennschärfe" zur Geisteshaltung von Strache & Co vermisse, dass es eine "Firewall", eine Trennwand, geben müsse.

Molterer, der damalige VP-Klubchef, hätte eine solche "infame Unterstellung" empört zurückgewiesen. Einige Verteidiger von Schwarz-Blau hätten die alte Platte von den angeblichen "Nestbeschmutzern" unseres "Heimatlandes Österreich" aufgelegt.

So ändern sich die Zeiten: Heute führt eine Boulevardzeitung den Landesnamen im Titel und berichtet atemlos und in einer "Aufdeckersymbiose" mit dem im Strache-Fieber liegenden ORF, was im Kern auch nur einigermaßen informierten Bürgern seit den frühen 90er-Jahren bekannt ist: dass die FPÖ (mit und ohne Jörg Haider bzw. Strache an der Spitze) notorisch von Rechtsradikalen durchsetzt war, NS-Verharmloser in ihren Reihen duldete und ausländerfeindliche Politik propagierte - Umstände, auf die Hans Rauscher seit vielen Jahren an dieser Stelle hinweist.

Und ganz speziell, was Heinz-Christian Strache betrifft: Wo der herkommt, das sollte niemand besser wissen als die Adepten eines angeblich geläuterten BZÖ, das sich von den Strache-Bildern konsterniert zeigt und scheinheilig "sofortige Aufklärung" verlangt. Ein kurzer Blick in das Archiv (zum Beispiel des Nachrichtenmagazins profil) zeigt - Zitat: "Im Ring freiheitlicher Jugend (RFJ) hatte Strache weniger Glück. Der damals zuständige Wiener Vorsitzende Peter Westenthaler weigerte sich, Strache aufzunehmen. Strache und dessen Freunde waren ihm zu rechtslastig." Das war 1991, Strache gerade Bezirksrat im dritten Wiener Gemeindebezirk, der sich anschickte, mit einer rechtslastigen Jugendtruppe die FPÖ aufzumischen. Mehr als zehn Jahre lang gab es ein ständiges Hauen und Stechen, Parteiaustritte und -ausschlüsse inklusive. Immer standen schlagende Burschenschafter im Zentrum.

Das Problem der FPÖ ist nicht so sehr die Person Strache. Der ist nur die Oberfläche. Das Problem war seit Jörg Haiders Machtübernahme immer die Politik der Freiheitlichen, und die hat sich in der Substanz nie geändert. Ob eine Partei, die 1992 ein Ausländer-raus-Volksbegehren startete, als regierungstauglich angesehen und "schöngeredet" wird, scheint also ganz allein von machtpolitischen Kalkülen abzuhängen.

Das ist der eigentliche Grund, warum Gusenbauer heute so redet, wie er noch vor wenigen Monaten nie geredet hätte. Gleiches gilt für Molterer, Westenthaler etc. Ein Trauerspiel. (Thomas Mayer/DER STANDARD, Print, 29.01.2007)