Die Fakten sind ebenso klar wie ernüchternd: die Österreicher sind Europameister im EU-Skeptizismus. In den jüngsten Umfragen halten 49 Prozent den EU-Beitritt Österreichs im Jahre 1995 für richtig, aber satte 39 Prozent für einen Fehler, 59 Prozent wollen dabei bleiben, aber immer 28 Prozent sind für den Austritt. Wenn in ganz Europa eine starke Anti-EU-Strömung festzustellen ist, dann ist sie in Österreich ganz besonders stark.

Das Unglück, das nicht eintritt

Die Gründe? Sind nicht sonderlich schwer auszumachen: Die wirtschaftlichen Vorteile der EU liegen in dem, was die meisten nicht unmittelbar spüren können - es ginge uns wirtschaftlich eindeutig schlechter, wenn wir nicht dabei wären. Aber das Unglück, das nicht eingetreten ist, zählt bei den meisten nicht. Registriert werden die negativen Auswirkungen: der Euro als Teuro (zwar nur in der Gastronomie, aber das ist vielen eben sehr wichtig), die Transitbelastung, die eindeutig gestiegene Kriminalität durch osteuropäische Banden und – zwar eher nur als angsterfüllte Projektion, nicht als Realität, aber deswegen nicht weniger wirksam – der Arbeitsplatzverlust durch den Beitritt der Osteuropäer.

Der "kleine Mann von der Straße"

Der gleichfalls noch sehr wirkungsmächtige Rest ist nationale Psychologie. Der "kleine Mann von der Straße" schimpft mit Vorliebe gegen "die da oben", hält sie für Steuergeldverschwender, Selbstbereicherer und selbstherrliche Bürokraten. Jahrzehntelang wurde das auf die nationale Regierung übertragen. Jetzt hat man dafür "Brüssel". Das ist noch weiter weg, noch bürokratischer und irgendwie verdächtig übernational. "Brüssel" erfüllt die Funktion, die früher die "Partei-Bonzen" in Österreich hatten.

Stimmungen verändern sich

Kein Zweifel, ein sehr beträchtlicher Teil der Österreicher/innen fühlt sich nicht wohl mit Europa, mit der EU. Man darf das nicht allzu dramatisch nehmen. Stimmungen verändern sich. Dennoch darf man den Missmut so vieler Österreicher mit der EU und Europa auch nicht bagatellisieren. Darin drückt sich auf einer Gefühlsebene unterhalb der aktuellen Verstimmungen wahrscheinlich doch ein gewisses "Fremdeln" gegenüber Europa aus. Langfristig ist das kein gutes Zeichen, weil eine politische Jahrhundertentwicklung – und das ist die Europäische Vereinigung – von der Bevölkerung letztlich mitgetragen werden muss, wenn es nicht zu schweren gesellschaftlichen Erschütterungen kommen soll. Wobei, und das stimmt gemäßigt optimistisch, in allem Umfragen bei den allermeisten Fragen zur EU, ob nun generelle Einstellung, Verfassung, Türkei-Beitritt usw., ein klarer "Bruch der Generationen" festzustellen ist: Die Jungen (15-24jährige) sind mehrheitlich dafür, die Älteren haben starke Ablehnungstendenzen.

"Europäische Identität"

Was bedeutet es, ein Europäer zu sein? Bei der Salzburger Veranstaltung "Sound of Europe" wurde unter prominenter Beteiligung von Politikern, Künstlern und Intellektuellen diskutiert: die "europäische Identität". Geistes-, politik- und wirtschaftsgeschichtlich ist das längst durchdekliniert: In Europa hat die Moderne begonnen. Toleranz, Meinungsfreiheit, Bürger-und Menschenrechte, ja mehr noch die Lust am Infragestellen, am Kritisieren, an der Debatte um der Debatte willen, ohne Einschüchterung Andersdenkender, ja unter "Inkorporierung" des Anderen, ist ein Grundkennzeichen der westlichen und damit der europäischen Moderne.

"Reizvoll und attraktiv war Europa immer dann, wenn es dem Glauben und dem Wissen, Techniken und Künsten und Subjekten das Recht auf eine jeweilige Eigenlogik zugestanden hat; traumatische Erfahrungen hat Europa gemacht (und es hat Traumata zugefügt), wenn es auf überzogene Einheitlichkeit gesetzt hat, schreibt der Kulturwissenschaftler Silvio Vietta in seiner "Europäischen Kulturgeschichte" (Verlag Wilhelm Fink, München 2005).

Bereitschaft zum Infragestellen

Der Erfolg der westlichen Gesellschaften, auch der fragwürdige, durch Überwältigung anderer Kulturen erzielte, beruht auf der Bereitschaft zum Infragestellen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt entstammt letztlich der Freiheit des Geistes. Arabische Intellektuelle führten vor wenigen Jahren in einem UN-Report die Rückständigkeit der muslimischen Welt auf die "versiegelten Gesellschaften" (der Historiker Dan Diner) unter der Dominanz des Islam (inklusive Nichtnutzung des intellektuellen Potentials der Frauen) zurück. Was nutzt dem heutige EU-Bürger – der sich oft gar nicht in dem Sinn als "Bürger der EU" versteht – das Bewusstsein dieses europäischen Erbes? Der Rückgriff auf die (Geistes-)Geschichte kann zumindest eines ins Bewusstsein rufen: Europa war und ist stark, lebendig und geistig wendig genug, um sich aus den fürchterlichsten Verirrungen zu lösen und zu Frieden und Prosperität zu finden.

"Vereinigten Staaten von Europa"

Zum Superstaat wird sich dabei die EU nie oder sehr lange nicht entwickeln. Auch nicht zu den "Vereinigten Staaten von Europa", die Winston Churchill 1946 in atemberaubender Vision entwarf (er prophezeihte die französisch-deutsche Versöhnung und Zusammenarbeit; Großbritannien sollte allerdings in seinem Konzept draußen bleiben – bei den USA und beim inzwischen geschwundenen Empire). Die EU "kann bis auf weiteres nicht mehr anbieten als eine sehr verfeinerte Form der Zusammenarbeit mit überstaatlichen Zügen. Nicht mehr und nicht weniger" (Rolf Gustavsson und Richard Swartz in der "Süddeutschen" vom 12.1.2006).

Europäische Kreativität

Für die beiden Autoren ist die Europäische Union eine (ewige?) "Unvollendete", ein Provisorium, mit dem wir leben müssen, auch wenn es nur die zweitbesten Lösungen hervorbringt. Zweitbeste Lösungen sind nicht so schön wie Ideallösungen, aber meistens dauerhafter und oft nicht so gefährlich wie vollendete Modelle der (unrealistischen) Perfektion. Das soll nicht heißen, dass die europäische Politik nicht die Frage der Arbeitslosigkeit und der sozialen Systeme besser angehen muss als bisher. Aber mehr Vertrauen in die europäische Kreativität ist erlaubt. (24.1.2006)