Anlass für die steigende Spannung sind die Präsidentschaftswahlen im Mai. Der Präsident wird vom Parlament gewählt und im Parlament verfügt die AKP über nahezu eine Zweidrittelmehrheit. Niemand könnte sie also daran hindern, Erdogan zum Präsidenten zu wählen. Doch Erdogan wäre nicht der Präsident des ganzen Volkes. Die Spaltung zwischen den Frommen und dem säkularen Teil der Bevölkerung ist tief. Die säkulare Türkei bestreitet deshalb die Legitimität Erdogans, sich jetzt, wenige Monate vor den Parlamentswahlen im November, von diesem Parlament schnell noch für sieben Jahre zum Präsidenten wählen zu lassen. Bisher sorgt der streng laizistische Präsident Ahmet Necdet Sezer für eine Machtbalance zwischen islamischen und säkularen Lager. Ein Präsident Erdogan würde diese Balance zerstören.
Zwar hat die AKP in den letzten fünf Jahren die Türkei nicht in einen Gottesstaat verwandelt, aber ihr Einfluss ist unübersehbar. Nicht nur das Kopftuch breitet sich aus, sondern vor allem die darunter verborgene, streng konserva-tive Gesinnung. Moderne, emanzipierte Frauen fühlen sich von der AKP bedroht. Äußerst rigide Sexualvorstellungen, die Zunahme von Ehrenmorden, die stillschweigende Duldung von Zweit- und Drittfrauen sind Indizien für diese Entwicklung.
Die AKP und vor allem ihr unumstrittener Chef Erdogan müssen sich deshalb entscheiden, ob sie einen Konfrontationskurs wählen oder einen Kompromiss anstreben. Obwohl die Opposition um CHP- Chef Deniz Baykal im Moment alle Möglichkeiten durchspielt, wie sie Erdogan stoppen könnte, gibt es parlamentarisch oder verfassungsrechtlich wenig Spielraum.