Landeskenner und gelernte Moskowiter wissen, wofür sie sich hier bedanken.
Immerhin gilt der 75 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegene Ort, der bis zur
Wende Zagorsk genannt wurde, seit der Gründung des Dreifaltigkeitsklosters des
Hl. Sergius im Jahre 1340 als spirituelles Zentrum des Landes - und als Ort des
nationalen Widerstandes. Schon während der Zeit der Tartarenstürme, und
späterhin gegen die Polen, fungierte er als wehrhafter Bauklotz. Zagorsk war
dabei sakrosanktes Glied einer ganzen Kette von geschichtsträchtigen Stätten, die
im Nordosten Moskaus und in jeweils 80-km-Etappen angelegt worden waren.
Eine Distanz, die Russlands Kutscher einst solide Acht-Stunden-Arbeitstage
bescherte ? und heutigen Besuchern einen unvergesslichen Trip ins Zentrum der
russischen Seele.
Eisiger Vorhang
Operettenhaft schieben sich die Umrisse von russischen Archetypen durch den leise fallenden Schneeflockenvorhang: rundliche Frauen mit giftgrünen Kopftüchern etwa, die für die am Eingang verhökerten Matrjoschka-Holzpuppen Modell stehen könnten, und rotgesichtige Bauern mit heiligem Wodkaschein. Auch Saatkrähen flattern über die angezuckerten Höfe der vom Schneetreiben trüben Zwiebeldächersuppe. Schwarz verwischte Kleckse, die von den fein geäderten Baumkronen auf die langen, wehenden Kleider und weißen Rauschebärte der Popen herabschielen. Gemeinsam mit über hundert Mönchen bereichern nämlich auch diese Sergiev Possads russisches Panoptikum und sorgen hier für Weihrauchschwaden und den sonoren Liturgie-Soundtrack.
Dass am vereisten Parkplatz auch verchromte Luxusschlitten vorrollen, mit privatem Blaulicht statt Schellengebimmel, kann am märchenhaften Reiz der winterlichen Szenerie nichts ändern. Denn das eher unverkrampft wirkende Auftreten der neureichen Businessmen gehört genauso zum russischen Alltag wie die pampigen Staatsdiener-Visagen der Museumsportiere. Im - an Sergiev Possads Kirchen angrenzenden - Museum wachen sie über alte Ornate und gleißende Klosterschätze. Und wohl auch über die eigenen, goldblinkenden Eckzähne.
Mühelos ließe sich dieser "Goldene Ring" um weitere ehemalige Außenposten des
alten Kiewer Reiches ergänzen. Die pittoreske Museumsstadt Suzdal, oder die
selten besuchten, ehemals prosperierenden Handelsniederlassungen
Pereslavl-Zalessky, Yaroslavl oder Vladimir locken nämlich bis heute mit
Holzkirchen und Kaufmannspalästen aus dem 16. und 17. Jahrhundert - und
bieten so besonders schöne Gucklöcher auf das alte zaristische Russland. Oder
aber an Dostojewskij im Wunderland. Denn immerhin flitzen neben obskur
aufgebockten Panzer-Denkmälern und Supermärkten unterwegs auch zahllose
traditionelle Dörfer vorbei. Weiße Spitzenvorhänge, ein üppiger Fenstergarten aus
sprießenden Eisblumen, und dahinter eine leise Ahnung von blinkenden
Samowaren und russischem Tee - all das findet sich neben Moskaus Suburbs
noch heute.
Fingerzeig im Trüben
Unterwegs nach Neu Jerusalem, einem weiteren Ausflugsziel am Rande Moskaus: Schneematsch, bettelnde Kinder an den Kreuzungen der Ausfallstraßen, später Überholmanöver von Pferdefuhrwerken."Dieses Haus gehörte früher Präsident Gorbatschow", der Fahrer wischt mit dem Zeigefinger auf der angelaufenen Windschutzscheibe herum. Doch auch die roten Ziegelsteine des zaristischen Peterspalastes leuchten am Moskauer Leningradski Prospekt durchs Lada-Fenster herein und rund vierzig Kilometer weiter nordöstlich: die goldenen Kuppeln des Klosters Neu Jerusalem.
Herrlich liegt diese Anlage des Patriarchen Nikon seit dem Jahre 1656 am Flussufer der Istra. Grün glasierte "Pfauenaugen"-Keramikfliesen und die vielen Fenster einer spektakulären Rotunde glitzern in der Sonne. Vom Dampf im unterirdisch gelegenen Felsengrab der Neu Jerusalemer Auferstehungskirche, der Brillen und Kameralinsen beschlagen lässt, ist in der klaren, kalten Luft nicht viel zu ahnen.