Auf der Folie des Fremden
Als Beschreibung der absurden Situation, in der sich der moderne Mensch befindet, hat Camus' Buch Furore gemacht - ein philosophischer Ansatz, der seine Wirkkraft freilich weit über die Literatur hinaus entfaltete. Die Band The Cure beispielsweise hat die zentrale Szene des schmalen Büchleins in ihrer ersten Single Killing an Arab auf den existenziellen und damit entscheidenden Punkt gebracht: "I can turn and walk away / Or I can fire the gun / Staring at the sky / Staring at the sun / Whichever I choose / It amounts to the same."
Wie immer man's anlegt, es führt zum Gleichen - dies hat sich möglicherweise auch Ronald Pohl gedacht, als er seinen Roman ausgerechnet auf der Folie des Fremden etabliert hat. Auf einer übermächtigen Vorlage also, die alles, was nach ihr kommt, zu erdrücken droht. Naturgemäß setzt sich solcherart zwischen Pohl und Camus ein Spiel in Gang, denn während man Die algerische Verblendung liest, fragt man zusehends nach Differenzen und Überschneidungen, und am Ende findet man - von Pohl kommend - möglicherweise gar zu Camus zurück. Vielleicht geschah das in meinem Fall auch nur aus dem übertriebenen Pflichtbewusstsein des Kritikers: Ich jedenfalls habe mich unmittelbar nach der Lektüre des einen Buches gleich noch einmal an das andere gemacht.
Mikroskopist
Das Motto, das Pohl seinem Roman mitgibt, ist übrigens ein anders als das oben vorgeschlagene. Es stammt von dem englischen Schriftsteller und Philosophen Gilbert Keith Chesterton und geht so: "Nicht lange, so wird ein Krieg zwischen Teleskopisten und Mikroskopisten die Welt spalten." Schon mit dem ersten Satz macht Pohl klar, dass die Prophezeiung sich wohl an seinem eigenen Buch bewahrheitet, denn in ihm erweist sich der Autor als wahrer Mikroskopist. Die detailreichen Beschreibungen, mit denen Pohl anhebt, sind - wie so vieles in diesem Buch - in lange Satzgirlanden gepackt. Zu lange, um sie hier in vollem Umfang anführen zu können; lange genug aber, um dem Leser sogleich die nötige Entschleunigung abzuverlangen:
So wie hier, gleich am Beginn der Algerischen Verblendung, wird in diesem Buch an vielen Stellen oder eigentlich das ganze Buch hindurch sehr vieles sehr schön gesagt, und immer wieder auch landen die kunstvoll gedrechselten Sätze genau dann sicher in ihren Pointen, wenn man die diffizilen Gebilde aufgrund ihrer Abgehobenheit schon taumeln und straucheln sah. Mit einem Wort: Ronald Pohl, dieser Luftkutscher des Schreibens, verkörpert etwas, das Camus partout nicht sein wollte: Er nämlich ist ein wirklicher Stilist. Der Vergleich mit den ersten Sätzen des Fremden macht uns sicher. Dort heißt es schlicht: "Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht."
Existentialismus
Die Mutter von Meursault stirbt übrigens auch bei Pohl, nur tut sie es hier - stilistisch einwandfrei - im Zeitlupentempo. Weiterer Unterschied: Seinen Roman siedelt Pohl in den frühen 60er-Jahren an, also knapp vor Ende des algerischen Unabhängigkeitskrieges, als im Land Chaos und Frevel herrschte. 20 Jahre vorher bei Camus schienen die Verhältnisse vergleichsweise geordnet. Entscheidender als diese Differenz ist der Austausch der grundlegenden Lebenshaltungen, den Pohl vornimmt, denn was bei Camus noch der Existentialismus war, ist bei ihm die pure Misanthropie.
Tatsächlich ist es eine korrupte und verkommene Welt, in die hinein der Autor seine Hauptfigur stellt, und es bleibt das Bild dieser Welt wie bei Camus durchaus nicht auf Algerien beschränkt. Ähnlich wie bei Thomas Bernhard macht die Misanthropie einen allgemeineren Zustand sichtbar. Als Erzähler verfügt Ronald Pohl dafür über ein ähnlich ausgeprägtes Talent wie der große Bruder aus Ohlsdorf, und die - nicht schlecht gewählte - Figur von Meursault gibt ihm alle Möglichkeiten an die Hand, es auch wirklich auszuleben.
Koloniale Arroganz
So bedarf es, um einen Araber zu töten, in der Algerischen Verblendung keiner Schusswaffe, denn das berühmte Killing an Arab findet hier umso effektvoller mit simplen Worten statt. Die koloniale Arroganz von Meursault - präsentiert zu einem Zeitpunkt, an dem schon klar ist, dass die Franzosen sich in diesem Land nicht mehr lange halten würden - lässt die einheimische Bevölkerung als faules und hinterlistiges Pack erscheinen. Jeder Einzelne von ihnen scheint zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit, einem Franzosen den Hals durchzuschneiden. "In den verwanzten Wohnschachteln aus Adobeziegeln", so heißt es an einer Stelle, "lauschen sie den aufrührerischen Reden ihrer Imams im Radio, während das rotierende Coca-Cola-Zeichen über dem Flachdach das ganze Ausmaß ihrer Genußgier anzeigt."
Übertreibungen