Bild nicht mehr verfügbar.

Algerien in den 60er-Jahren: Lange werden sich die Franzosen hier nicht mehr halten können. Das Land versinkt kurz vor Ende des Unabhängigkeitskrieges im Chaos. Was in Camus’ „Fremden“ noch Existenzialismus war, ist bei Pohl Misanthropie.

Foto: APA/EPA/AFPI
Same player shoots again, könnte man als Motto vor den ersten Roman von Ronald Pohl stellen. Aber sofort werden Zweifel wach, denn es ist, obwohl er den gleichen Namen trägt, vielleicht gar nicht der gleiche Spieler, der in diesem Buch auftritt, und schießen tut er - anders als sein weltberühmter Vorgänger - auch nicht. Wir erinnern uns: In Albert Camus' Jahrhundertbuch Der Fremde (1942) streckt die Hauptfigur Meursault, ein kleiner Büroangestellter in Algerien, unter der gleißenden Sonne am Strand mit fünf Schüssen einen Araber nieder.

Auf der Folie des Fremden

Als Beschreibung der absurden Situation, in der sich der moderne Mensch befindet, hat Camus' Buch Furore gemacht - ein philosophischer Ansatz, der seine Wirkkraft freilich weit über die Literatur hinaus entfaltete. Die Band The Cure beispielsweise hat die zentrale Szene des schmalen Büchleins in ihrer ersten Single Killing an Arab auf den existenziellen und damit entscheidenden Punkt gebracht: "I can turn and walk away / Or I can fire the gun / Staring at the sky / Staring at the sun / Whichever I choose / It amounts to the same."

Wie immer man's anlegt, es führt zum Gleichen - dies hat sich möglicherweise auch Ronald Pohl gedacht, als er seinen Roman ausgerechnet auf der Folie des Fremden etabliert hat. Auf einer übermächtigen Vorlage also, die alles, was nach ihr kommt, zu erdrücken droht. Naturgemäß setzt sich solcherart zwischen Pohl und Camus ein Spiel in Gang, denn während man Die algerische Verblendung liest, fragt man zusehends nach Differenzen und Überschneidungen, und am Ende findet man - von Pohl kommend - möglicherweise gar zu Camus zurück. Vielleicht geschah das in meinem Fall auch nur aus dem übertriebenen Pflichtbewusstsein des Kritikers: Ich jedenfalls habe mich unmittelbar nach der Lektüre des einen Buches gleich noch einmal an das andere gemacht.

Mikroskopist

Das Motto, das Pohl seinem Roman mitgibt, ist übrigens ein anders als das oben vorgeschlagene. Es stammt von dem englischen Schriftsteller und Philosophen Gilbert Keith Chesterton und geht so: "Nicht lange, so wird ein Krieg zwischen Teleskopisten und Mikroskopisten die Welt spalten." Schon mit dem ersten Satz macht Pohl klar, dass die Prophezeiung sich wohl an seinem eigenen Buch bewahrheitet, denn in ihm erweist sich der Autor als wahrer Mikroskopist. Die detailreichen Beschreibungen, mit denen Pohl anhebt, sind - wie so vieles in diesem Buch - in lange Satzgirlanden gepackt. Zu lange, um sie hier in vollem Umfang anführen zu können; lange genug aber, um dem Leser sogleich die nötige Entschleunigung abzuverlangen:

"Während die Mehrzahl der andrängenden Menschen über die Gleise stieg, als ob deren rostige Auszehrung nichts gelte, hielten sich vereinzelt Wartende ein Stück weit abseits, gleich, ob sie Freunde und Verwandte lange entbehrt und diese nun in ihre Arme zu schließen gehabt hätten oder ob sie vor Besteigen des ihnen zugedachten Zuges die Furcht ergriffen, an einen unerwünschten Ort verbracht zu werden, von welchem keine Wiederkehr möglich - wen begehrt es nicht zu Zeiten nach der Unwiderruflichkeit eines solches Entschlusses -, manche von ihnen nachlässig gekleidet, als dränge es sie lediglich zu einer raschen Besorgung; die Matrone, ein Tuch um ihr verwahrlostes Haar geschlungen [...], der Advokat, der die Überschreibung einer Liegenschaft zu versäumen droht [...], ein auf Zeit dienender Soldat [....]" - und jetzt kommt es erst eigentlich: "- sie alle geben dem widerlichen Rost auf den Schienen ihr Geleite und richten sich in der Zufälligkeit ihres Hierseins nach Maßgabe wohnlich ein."

So wie hier, gleich am Beginn der Algerischen Verblendung, wird in diesem Buch an vielen Stellen oder eigentlich das ganze Buch hindurch sehr vieles sehr schön gesagt, und immer wieder auch landen die kunstvoll gedrechselten Sätze genau dann sicher in ihren Pointen, wenn man die diffizilen Gebilde aufgrund ihrer Abgehobenheit schon taumeln und straucheln sah. Mit einem Wort: Ronald Pohl, dieser Luftkutscher des Schreibens, verkörpert etwas, das Camus partout nicht sein wollte: Er nämlich ist ein wirklicher Stilist. Der Vergleich mit den ersten Sätzen des Fremden macht uns sicher. Dort heißt es schlicht: "Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht."

Existentialismus

Die Mutter von Meursault stirbt übrigens auch bei Pohl, nur tut sie es hier - stilistisch einwandfrei - im Zeitlupentempo. Weiterer Unterschied: Seinen Roman siedelt Pohl in den frühen 60er-Jahren an, also knapp vor Ende des algerischen Unabhängigkeitskrieges, als im Land Chaos und Frevel herrschte. 20 Jahre vorher bei Camus schienen die Verhältnisse vergleichsweise geordnet. Entscheidender als diese Differenz ist der Austausch der grundlegenden Lebenshaltungen, den Pohl vornimmt, denn was bei Camus noch der Existentialismus war, ist bei ihm die pure Misanthropie.

Tatsächlich ist es eine korrupte und verkommene Welt, in die hinein der Autor seine Hauptfigur stellt, und es bleibt das Bild dieser Welt wie bei Camus durchaus nicht auf Algerien beschränkt. Ähnlich wie bei Thomas Bernhard macht die Misanthropie einen allgemeineren Zustand sichtbar. Als Erzähler verfügt Ronald Pohl dafür über ein ähnlich ausgeprägtes Talent wie der große Bruder aus Ohlsdorf, und die - nicht schlecht gewählte - Figur von Meursault gibt ihm alle Möglichkeiten an die Hand, es auch wirklich auszuleben.

Koloniale Arroganz

So bedarf es, um einen Araber zu töten, in der Algerischen Verblendung keiner Schusswaffe, denn das berühmte Killing an Arab findet hier umso effektvoller mit simplen Worten statt. Die koloniale Arroganz von Meursault - präsentiert zu einem Zeitpunkt, an dem schon klar ist, dass die Franzosen sich in diesem Land nicht mehr lange halten würden - lässt die einheimische Bevölkerung als faules und hinterlistiges Pack erscheinen. Jeder Einzelne von ihnen scheint zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit, einem Franzosen den Hals durchzuschneiden. "In den verwanzten Wohnschachteln aus Adobeziegeln", so heißt es an einer Stelle, "lauschen sie den aufrührerischen Reden ihrer Imams im Radio, während das rotierende Coca-Cola-Zeichen über dem Flachdach das ganze Ausmaß ihrer Genußgier anzeigt."

Übertreibungen

Gespiegelt findet sich, was Meursault von den Arabern hält, in der völligen Ignoranz, die die Grande Nation und ihre schmierigen Vertreter in Algerien allem entgegenbringen, was seitens des Islam auf sie zukommt. Erstaunlicher als dieser unmittelbare Gegenwartsbezug ist die Art und Weise, in der Pohl ihn herstellt, denn es steckt vor allem und zunächst eine ungeheure schriftstellerische Energie und ein gewaltiger Formwille in allem, was er über die scheinbar so entrückten algerischen Zustände sagt. Rein literarisch gesehen lebt der Roman genau davon: von den Übertreibungen, die hier bis hin in die aberwitzigsten Details gesteigert werden, und von der Disziplin, mit der der Autor dies alles in seine schönen Sätzen packt. Als Fazit bleibt: Nicht ganz so gut wie Der Fremde, aber auch nicht schlecht, dieses Buch. Wirklich nicht schlecht! (Von Klaus Kastberger/Album, DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.2.2007)