Wer es bis zur Festung La Rocca geschafft hat, kann zu Recht behaupten, die ganze Republik gesehen zu haben.

Foto: visitsanmarino
Eines kann man in San Marino nicht leiden, wenn nämlich Besucher, die erst am Morgen die Kehren in die Stadt herauf gekurvt sind, schon mittags fragen: "Und was machen wir am Nachmittag?" Durch solche Anspielungen fühlen sich die San Marinesen als Briefmarkenstaat abgestempelt, auch wenn ihre kleine Republik tatsächlich formatfüllend auf einer Marke Platz finden kann.

Natürlich ist der Zwergstaat am Apennin vor allem Briefmarkensammlern ein Begriff oder Tagesausflüglern, die ihren Urlaub im nahen Rimini verbringen und einen grauen Tag, der nicht so recht für das Strandleben zu passen scheint, für einen Tagesausflug nach San Marino nutzen. Das verwinkelte Felsennest, als das sich San Marino, die kleine Hauptstadt der gleichnamigen Republik beim näheren Hinsehen entpuppt, kann man allerdings nur erleben und kennen lernen, wenn man sich die Mühe macht, bergauf und bergab, über Treppen und durch enge, steile Gassen von Platz zu Platz zu bummeln. Und sich dann immer wieder davon erholt, dass man in dieser Fünftausend-Seelen-Metropole ständig atemlos wird.

Atemlos zu werden, ist in der Tat in San Marino nicht schwer. Nicht nur, weil es so mühsam ist, das bizarre Städtchen auf dem hohen Felsen zu Fuß zu erkunden, sondern weil die Aussichten und Ansichten der Hauptstadt des knapp 23.000 Einwohner und 61 Quadratkilometer Fläche zählenden Staates immer wieder staunen machen.

Nachtwächterstaat?

1263 gaben sich die San-Marinesen jene Verfassung, die heute noch die Grundlage ihres Staates ist. Das allein sagt eigentlich schon viel aus über die liebenswürdige Skurrilität, die diesen Zwergstaat prägt. Nach uralter Überlieferung wird er heute noch von zwei Capitani regiert, die alle halben Jahre gewählt werden müssen. Als Papst Urban IV. 1631 San Marinos Unabhängigkeit anerkannte, stand die Republik unter dem Schutz des Kirchenstaates, später unter dem Italiens. Seit 1691 gibt es in dem aus neun Castelli (also Schlössern genannten Ortschaften) bestehenden Staat die Schulpflicht für Kinder und noch immer ist es streng verboten, die Hauptstadt mit Waffen zu betreten. Die Nachtwächter sind zumindest auf dem Papier noch immer verpflichtet, einem Bestohlenen Schadenersatz zu leisten, wenn ein Dieb nicht gefasst werden kann.

Anders als Monaco oder Andorra ist San Marino kein Steuerparadies, in dem sich prominente Steuerflüchtlinge oder Briefkastenfirmen ansiedeln können. Es lockt auch nicht mit zollfreien Einkaufsmöglichkeiten. Das kleine Land betreibt kein Spielcasino und will auch nicht Altersresidenz für exzentrische Millionärspensionisten sein. So ist man in der winzigen Republik vor allem auf Touristen angewiesen, für die die steil den Monte Titano hinaufgewachsene Altstadt eine wahre Fundgrube für Fotomotive ist. Die Wachablösung vor dem Regierungsgebäude auf der Piazza della Libertà ist dabei das nahe liegendste Motiv.

Perspektivische Stiege

Vom Centro Storico, also von der Altstadt aus, führt eine Treppe hinauf zur ältesten und wohl meist fotografierten der drei Festungen San Marinos: La Rocca stammt aus dem 10. Jahrhundert und ist durch eine Brücke verbunden mit der zweiten, La Cesta, aus dem 13. Jahrhundert. Über einen kleinen Weg kommt man zur dritten, La Montale, die erst im 14. Jahrhundert gebaut wurde. Diese auf schwindelerregend schmalem Felsgrat thronenden Burgen zusammen mit der alten Befestigungsmauer sichern selbst einem Zwergstaat großzügige Perspektiven.

Auf der einen Seite kann man bei klarem Wetter nach Osten bis zum Meer, nach Rimini schauen, auf der anderen Seite überblickt man mit einem einzigen Augenaufschlag gleich die ganze Republik. Die flache, reizvolle Hügellandschaft der Apenninausläufer vermag die lediglich acht Dörfer San Marinos nämlich erst gar nicht zu verstecken.

Wer hier wirklich gut essen will, muss die Hauptstadt mit ihrer auf Massentourismus eingestellten Gastronomie verlassen und in jene Dörfer fahren, die nicht an der von Rimini kommenden Schnellstraße liegen. Vor allem Chiesanuova gilt mit seinen ländlichen Ristorante noch als lohnender Geheimtipp. Um die verhältnismäßig vielen Weine kennen zu lernen, die aus San Marino kommen, muss man dann doch zurück in Richtung Riviera: Das Castello degli Gnomi in Serravalle ist als Enothek die verlässlichste Orientierungshilfe zwischen Sangiovese und Ribolla.

Nach dem Fremdenverkehr liegt San Marinos wichtigste Einnahmequelle aber tatsächlich im Verkauf von Münzen und Briefmarken. Als unabhängiger, wenn auch in der Obhut Italiens stehender Staat, ist man natürlich stolz, nicht nur Vollmitglied der UNO, sondern auch im Weltpostverein zu sein. Seit 1877 gibt es in dieser Republik eigene Marken, wer hier von einem Einheimischen gefragt wird, ob man sich denn nicht die Briefmarkensammlung anschauen möchte, sollte das einfach tun. Ziel der Einladung ist ohne Zweifel ein alter Palazzo in Borgo Maggiore, der das Briefmarkenmuseum beherbergt. Bevor man mit der Seilbahn wieder in die Altstadt zurückkehrt, wird man eventuell auch im Waffenmuseum von Borgo Maggiore landen. Durch das geltende Waffenverbot in der Hauptstadt der ältesten Republik der Welt scheint sich hier ja einiges angesammelt zu haben. (Christoph Wendt/Der Standard/Printausgabe/10./11.2.2007)