Frustquelle Zeugnis: Durch Einengung der Leistungsbeurteilung auf "gute Testergebnisse" gerät Österreichs Schulsystem im internationalen Vergleich ins Hintertreffen.

Foto: Hendrich
Die Neuregelung der Aufnahme von Volksschülern in Hauptschulen oder Gymnasien auf Basis der Semesterzeugnisse verweist auf eine Grundschwäche unseres derzeitigen Bildungssystems.

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Derzeit bangen wieder tausende Eltern von Viertklässlern, ob ihr Kind es schaffen wird, im kommenden Schuljahr in die "Wunschschule" aufgenommen zu werden. Das Zittern hat aber in den meisten Fällen schon vier Jahre vorher begonnen - ausgelöst von der bangen Frage: Welche Lehrerin (es gibt nur wenige Männer in den Grundschulen) wird unser Kind wohl bekommen?

Bereits beim Schuleintritt also werfen die (unerwünschten?) Nebenwirkungen des österreichischen Schulsystems ihre Schatten voraus. Beim Übertritt in die weiterführende Schulform manifestieren sich dann, wie die jüngste Debatte um die Aufnahme von Volksschülern in Hauptschulen oder Gymnasien zeigt (vgl. Standard-Berichte vom 9. und 16. 2.) die Schwächen des Schulsystems in aller Deutlichkeit.

Zum ersten Punkt: Eltern entwickeln ein erstaunliches Know-how darüber, welche Lehrpersonen für ihr Kind "geeignet" sind und welche nicht. Nicht selten hört man daher bereits bei der Einschulung in die Volksschule die Forderung: "Mein Kind muss unbedingt Lehrerin X erhalten!"

Unqualifizierte Lehrer

Der Grund dafür: Die österreichische Lehrerausbildung zeichnet sich dadurch aus, dass jede/r Lehrer/in werden kann. Weder wird (wie etwa in Finnland) im Vorfeld geprüft, wer eigentlich dafür geeignet ist, noch erfolgt während des Studiums eine klare Entscheidung über die Eignung zum Lehrerberuf. "Schwierige Fälle" werden wie heiße Kartoffeln herumgereicht, ohne dass jemand entscheidet: "Nicht geeignet!"

Konsequenz: Irgendwie schafft es dann jede/r - was wiederum zur Folge hat, dass Generationen von Schülerinnen und Schülern mit Lehrpersonen zu tun haben, die den Beruf eigentlich gar nicht ausüben dürften. (Wie viel "Systemenergie" investiert werden muss, um mit problematischen Lehrpersonen in Schulen umzugehen, wissen alle, die damit konfrontiert sind: Schüler/innen, Eltern, Schulleitung, Schulbehörden, Juristen ...)

Zum Zweiten: Der Flaschenhals unseres Schulsystems nach der vierten Volksschulklasse zeichnet sich schon vorher ab. Bereits in der zweiten Klasse beginnt der Druck auf die Noten, um in der vierten möglichst lauter Einser zu haben. In Innsbruck genügt in der vierten Klasse schon ein (!) Zweier nicht mehr, um in die Wunschschule zu kommen. Welche Belastung das für die Schüler/innen bedeutet, kann man sich ausmalen. (Ich erfuhr von einer Zehnjährigen, die aufgrund des Notendrucks wegen eines Magengeschwürs behandelt werden musste!).

Nun gibt es nicht wenige Stimmen, die diesen Druck mit dem Argument rechtfertigen: Das Leben ist eben hart und nur die Tüchtigen setzen sich durch. Nur: Ist das die Tüchtigkeit, die wir uns wünschen (sollen)?

Ein System, in dem so argumentiert wird, fördert nicht nur das Durchsetzen einzelner gegen andere als oberstes Qualifikationskriterium, sondern auch die Entwertung des Leistungsbegriffs, indem es Leistung ausschließlich über die "Ziffernnote" definiert. Es zählt demnach nicht mehr, was jemand weiß oder kann, sondern ob man - ähnlich wie beim Skirennen - eine Zehntelsekunde schneller ist.

Vergeudete Energien

Dies führt im städtischen Bereich dazu, dass bis zu 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler Zeugnisse mit lauter "Sehr gut" erhalten, da die Lehrer/innen nicht am "Zehntelsekunden"-Rückstand ihrer Schützlinge schuld sein wollen. Konsequenz: mehr Kampf der Schüler/innen (und vor allem Eltern!) um die Wunschplätze in den Gymnasien und angestrengte Bemühungen der Schulbehörde um neue Selektionsformen zugunsten einer "faireren" Zuweisung.

Fazit: Wir produzieren Verlierer - diejenigen, die mit einem Zweier im Zeugnis erfahren, dass sie sind nicht gut genug sind, um in die Schule ihrer Wahl gehen zu können, und all jene, die ohnehin nicht "gut genug" sind, um ins Gymnasium zu kommen. (Die Debatte um die so genannte "Restschule" im städtischen Bereich ist hinlänglich bekannt.)

Diese Erfahrungen belegen, dass unsere gegenwärtige Organisation von Schule enorm viel Systemenergie bindet, um die Schnittstelle nach dem vierten Schuljahr möglichst fair zu gestalten - und dabei dennoch scheitert. Die heutigen Kinder passen nicht mehr für unsere Schulen ... Schüler/innen, Lehrer/innen, Eltern, Schulaufsicht etc. wenden viel "pädagogische Qualitätszeit" dafür auf, die "richtigen" Schüler in die "richtige Schule" zu bekommen, anstatt diese Zeit dafür zu nutzen, die Bildungsprozesse unserer Schülerinnen und Schüler in dieser entwicklungspychologisch bedeutsamen Phase zu fördern. Spätestens hier kommt das österreichische Schulsystem ins Hintertreffen gegenüber jenen Ländern, in denen diese wichtige Phase dazu genutzt wird, sich mit hohem Einsatz um die Lernprozesse der Schüler/innen zu kümmern.

Radikal umdenken

Was ist zu tun?

(1) Jene Hürden aus dem Schulsystem beseitigen, die verhindern, dass die wertvollste Phase der Lernbiografie von Kindern optimal genutzt wird.

(2) Stärkeres Eingehen auf die persönliche Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Schülers und jeder einzelnen Schülerin durch die Öffnung des Unterrichts für neue Lernformen. (Die Lernpsychologie belegt, dass sich Kinder einer Klasse in ihrer Lernfähigkeit, ihrer Lernbereitschaft und ihrem Lerntempo erheblich voneinander unterscheiden!)

(3) Stärkere Berücksichtigung alternativer Formen der Leistungsbeurteilung, in denen nicht nur zählt, was in Schularbeiten oder Tests als "richtig" gilt, sondern die geeignet sind, die Fähigkeiten der Kinder in ihrer Gesamtheit erfassen.

Dazu benötigen wir ein radikales Umdenken weg vom "Wie kriegen wir die richtigen Schüler/innen in die richtige Schule!" hin zum "Wir tun alles, um jedem Kind das Beste zu geben!" Wagen wir es, die österreichische Schule neu zu denken!? (DER STANDARD, Printausgabe 19.2.2007)