Dem "Wahlverein Schüssel" war nur mäßiger Erfolg beschieden. Um die Mehrheit der Wählergunst zurückzuerobern, braucht es vor allem eine Öffnung der Partei gegenüber neuen Arbeitnehmerinteressen.

Foto: Newald
Geht es nach der Papierform, dann ist die ÖVP aus dem bisherigen Koalitions-Fight als Punktesieger hervorgegangen; allerdings nur knapp - und wohl deshalb, weil die SPÖ in allen Runden die Deckung vernachlässigt hat und gegen die harte Rechtshand des routinierten Gegners ziemlich hilflos war.

Tatsächlich sind aber die nächsten großen Fights noch in erheblicher Ferne. Um aber aus dem Boxring in die Innenpolitik zu wechseln: Die nächsten Wahlen gewinnt derjenige, der sich nicht von der Tagespolitik überrollen lässt, sondern Alternativen zu den "Höllen der Zukunft" aufzeigt - Auswege, die die großen Ängste der pessimistischen österreichischen Seele mindern -, die da sind: Unfinanzierbarkeit des Gesundheits- und Pensionssystems in einer Altenrepublik; Ausgeliefertsein gegenüber globalen Märkten und unbarmherzigen Börsianern; Hilflosigkeit angesichts der drohenden Umweltkatastrophen - um nur die wichtigsten zu nennen.

Dabei ist es eines der unausgesprochenen Ziele der großen Koalition, Zukunftsängste abzubauen und sozial verträgliche Lösungen anzubieten; ja sie bezieht daraus sogar ihre Existenzberechtigung. Stattdessen ist aber das Regierungsprogramm in vielem sehr vage und es gibt schon die ersten ernsten Kompetenz-"Missverständnisse" - wie beim Pflegekosten-Problem.

Was nun die ÖVP betrifft, so waren sich nach dem 1. Oktober 2006 alle ernsthaften Analysten bewusst, dass ihre Niederlage erstens auf den Verlust der Sozialkompetenz zurückzuführen ist; zweitens, die patriotische Schminke nach sechs Jahren Partnerschaft in einer inferioren FPÖ-BZÖ-Kumpanei verloren gegangen war; und dass es schließlich der "Wahlverein W. Schüssel" erkennbar nur noch auf Machterhalt abgesehen hatte.

Dabei war die "Philosophie" der ÖVP seit ihrer Gründung 1945 darauf ausgerichtet, eine "Volks"-Partei aus Bauern, Selbstständigen und Arbeitnehmern zu sein; das "bündische" Prinzip sicherte eine ausgewogene Repräsentanz und stellte eine Art Gleichgewicht dar: Jedermann sollte sich in der ÖVP wiederfinden können.

Trotzdem waren es zuerst schwer gewichtig die Vertreter des Bauern- und Wirtschaftsbundes - Figl und Raab - die in der Hunger- und Wiederaufbauzeit das Sagen hatten. Und das galt auch bis in die 60er-Jahre, als junge urbane Intellektuelle aus und über den ÖAAB (Arbeiter-und Angestelltenbund) ein Umdenken forderten. Sie setzten sich im Habitus von den betulichen Honoratioren der Alt-ÖVP ab, glaubten an die (damals noch keineswegs unbestrittene) "österreichische Nation" und definierten die Christliche Soziallehre zum "Dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus - was auch in Westeuropa zur Parole wurde.

Ihr Pech: Die linksradikalen und linksliberalen Ideen des 68er-Jahres erwiesen sich als kraftvoller und machten auch in Österreich die großen Wahlsiege der SPÖ unter Bruno Kreisky möglich. Die ÖAAB-Ideologen hingegen mussten zurückstecken und die beiden Parteichefs aus dem ÖAAB - Josef Taus und Alois Mock - bekamen den Gegenwind zu spüren. Wirtschaft und Bauern, verstärkt durch die Industrie, eroberten innerparteiliches Terrain; und ihrem Einfluss war es letztendlich wohl auch zuzuschreiben, dass es im Jahr 2000 zum Rechtsruck unter dem Wirtschaftsbündler Schüssel kam und dieser das Risiko der "Wende" mit der rechten Haider-Partie eingehen konnte.

Der ÖAAB freilich hatte sich zu diesem Zeitpunkt darauf zurückgezogen, was er heute ist: Vor allem eine Interessensbewahranstalt von Beamten und Berufspolitikern. Gemäß der inneren Logik wurde daher auch der gewichtige Chef der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst zum ÖAAB-Bundesobmann gewählt - Fritz Neugebauer.

Das Problem für die Schwarzen hatte dergleichen aber nur verstärkt: Man hatte den Paradigmenwandel in Österreich nicht ausreichend berücksichtigt und vertritt nun schon jahrzehntelang schrumpfende oder stagnierende Segmente der Gesellschaft:

  • Von 1960 bis in die Gegenwart (laut WIFO-Bericht 2005) ist die Zahl der Selbstständigen in der Gewerblichen Wirtschaft (plus Freie Berufe) von 337.000 auf 288.000 gesunken;

  • extrem dramatisch verringerte sich die Zahl der in der Landwirtschaft Erwerbstätigen - von 598.000 auf 102.000. Tendenz: weiter rückläufig;

  • nur die Zahl der öffentlichen Bediensteten nahm nicht ab, soll aber jetzt - wie es im Regierungsprogramm der großen Koalition heißt - "konsolidiert" werden (was immer dies wirklich bedeutet); Landesverwaltungen will man definitiv reduzieren.

    Also könnte die ÖVP angesichts dieser Entwicklungen wieder Erster im Lande werden? - Realistisch ist dieses Ziel wohl nur, wenn es zu einem Sprung über den eigenen Schatten kommt. Und das bedeutet vor allem das weite Aufmachen der Tore, heißt Frischluft in die alten Gemäuer bringen. Die ÖVP muss einen Nachholprozess vollziehen, den Bruno Kreisky seiner SPÖ schon vor einer Generation verordnet hat. Zwar war die "Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie" vielfach ein Mix aus Populismus und Pseudoliberalität, aber sie bescherte der Sozialdemokratie nach 1970 einen beträchtlichen Imagevorteil. Plant solches jetzt für die ÖVP der junge Landwirtschaftsminister Josef Pröll mit seiner "Perspektivengruppe" (ein Unwort!), wenn er von einer "modernen konservativen Volkspartei mit klarem Profil" spricht?

    Und der ÖAAB muss sich mittlerweile besonders intensiv fragen lassen, wie er den Brückenschlag zu den wichtigsten zukünftigen Zielgruppen schafft, nämlich zu den (Privat-)Angestellten, zur technischen Intelligenz, zu den in Wissenschaft und Forschung Beschäftigten - wobei man die wirklichen Antworten wohl nicht auf Experten-Enqueten erfahren wird.

    Zur Erinnerung: Bei der Wahl am 1. Oktober 2006 (und schon vorher in Salzburg oder der Steiermark) waren es vor allem die oben genannten Gruppen, die sich von der ÖVP verabschiedet haben; jede Analyse ergibt, dass die bürgerlichen Wohngebiete in den Innenstädten wegbrachen, die "feinen" Villenvororte und der vermögende "Speckgürtel" rund um Wien: Der Vater tiefschwarzer konservativer Ministerialrat, die Tochter grüne Laborantin - das ist (vergröbert) die Richtung der Wanderbewegung. Will man so etwas aber stoppen, wird man mehr als bisher eine bewusst "ideologische" Politik betreiben müssen - und weniger steife Machtpolitik nach dem Muster der alten Honoratiorengilde ...

    Was in diesem Zusammenhang die Grünen betrifft, so werden es Van der Bellen & Co schwer haben, aus heutiger Sicht links von der SPÖ noch viel zusätzliches Wählerpotenzial zu finden. Aber ein Gegenmodell für die ÖVP-Unzufriedenen (vor allem die jungen) zu bilden - das wäre wohl relativ plausibel. Schlussendlich könnte es sogar zu einem Schulterschluss zwischen Schwarz und Grün kommen, sollte die große Koalition vor ihrer Zeit zerbrechen. Aber das ist schon mehr als Spekulation, es ist Fiktion. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.2.2007)