Wien - Am wertvollsten, meinte einmal der komponierende Pianist und Visionär Ferruccio Busoni, sei jenes Gefühl, das sich verbirgt. Und an anderer Stelle plädierte er für einen Technikbegriff, der über das rein Mechanische hinausgeht und jene rhythmischen, melodischen und harmonischen Feinheiten umfasst, die ein Interpret hervorzubringen mag.

Gemessen an Busonis Kriterienkatalog, der eine Balance zwischen Gefühl und technischer Vollendung fordert, ist Jewgenij Kissin mit seiner einmaligen Klangfantasie gefährlich nah am Ideal des perfekten Musikers. Nur wer ein grobkörniges Ausdrucksraster an ihn anlegt, kann den Reichtum an Nuancen und Farben, kann die delikate Agogik, jene mikrologische Gestaltung musikalischer Zeit, die der russische Mittdreißiger an den Tag legt, verkennen.

So wirkten im Musikverein manch beiläufige Formulierungen von Schuberts Es-Dur-Sonate D 568 in ihrer rokokohaften Artigkeit gemäß Kissins Leumund fast kühl, ohne es doch zu sein, zumal stets Eruptionen unter dem Kantablen drohten, so wie einen sein Spiel insgesamt beunruhigt, aufgewühlt hinterlässt.

Die kaum verhohlene Destruktivität von Beethovens 32 Variationen über ein eigenes Thema c-Moll (WoO 80), eine Art pervertierter Sarabande mit aggressiven Akzenten, nahm Kissin zum Anlass für erregte Zuspitzung der abrupten Stimmungswechsel in den jeweils nur achttaktigen (!) Variationen.

Dass er ebenso wie zu überraschender Überrumpelung zu einer Kunst des feinsten Übergangs prädestiniert ist, zeigte er in den Sechs Klavierstücken (op. 118) von Brahms beseelt, doch ohne Überschwang, ähnlich wie er Liszts "Liebestraum" (Notturno III) mit einer pseudoromantischem Pathos wohltuend fernen Innigkeit begegnete.

Nach einem leichtfüßig-uhrwerkartigen Spinnerlied Mendelssohn-Bartholdys war es nicht erst bei der dritte Zugabe, Horowitz' fulminant gegebenen Carmen-Variationen schlicht entwaffnend, wie Kissin selbst die Welt eingestandener Virtuosenstücke zu transzendieren vermag.

Schon in Chopins Andante spianato et Grande Polonaise Es-Dur (op. 22) hatte der stets hochkonzentrierte Pianist einen Kosmos an Empfindungswelten hinter perlender Eleganz und Understatement verborgen. (Daniel Ender / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22.2.2007)