Chisinau – Alina sagt, sie sei 17 Jahre alt. Dabei ist sie 24. Und Alina heißt sie eigentlich auch nicht. An ihre wahre Identität will sich das moldawische Mädchen partout nicht erinnern. Manchmal fängt sie einfach so zu schreien an: "Er überfährt mich mit dem Auto, wenn ich nicht gehorche!" Was Alina in all seinen grausamen Details erzählt, klingt fast unglaubwürdig. Aber es ist traurige Wahrheit. Tausende Frauen aus dem ärmsten Land Europas können es bezeugen. Auch sie wurden an brutale Menschenhändler verscherbelt.
Keine schwierige Überzeugungsarbeit
50 Dollar sind in Moldawien eine Menge Geld. Fast ein Monatslohn. Da werden sogar Väter schwach, die schon seit Jahren arbeitslos sind. Innerhalb weniger Augenblicke kann so aus einer Tochter Billigware werden. Die Händler wissen das nur zu gut. Meist brauchen sie nicht lange Überzeugungsarbeit leisten. Das kleine Land im Osten Rumäniens hat niemandem etwas zu bieten, schon gar nicht jungen Menschen. Sie verlassen in Scharen ihre Heimat. Von offiziell 4,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern leben nur knapp drei Millionen innerhalb der Grenzen Moldawiens. Der Rest versucht sein Glück weit weg von zu Hause.
Fort von Trostlosigkeit
Die Perspektivlosigkeit ist erdrückend. Keine sozialen Strukturen, keine Zivilgesellschaft, keine Ausbildungsmöglichkeiten, keine Jobs, keine Aussicht auf Besserung. Auch Alina war klar, dass das Angebot, das ihr dieser nette Herr unterbreitet hatte, die große Chance sein könnte. Als Kellnerin oder Kindermädchen. Fort von Trostlosigkeit und Stillstand, endlich Spaß, Freude, Wohlstand, Geld. Über Rumänien, wo der Preis für ein Mädchen im Normalfall bereits auf 500 Dollar ansteigt, ging die Reise nach Italien. Zumindest sollte es Italien werden. Gekommen ist Alina nur bis Albanien. Dort begann ihr Martyrium erst richtig.
Keine Hilfe
Menschenhandel wird international als "Trafficking" bezeichnet. Der Schweizer Martin Wyss ist dafür Spezialist. Seit drei Jahren kämpft er in der Hauptstadt Chisinau im Rahmen seiner Tätigkeit für die International Organization for Migration (IOM) gegen dieses in Moldawien besonders verbreitete Phänomen. "Was mich am meisten betroffen gemacht hat, war, dass den Mädchen niemand geholfen hat – und zwar bevor sie etwas gewagt haben, von dem sie selbst wussten, dass es nicht sehr intelligent ist."
Nach Martyrium Abschiebung
Die meisten Mädchen und Frauen haben aber gar nicht die Möglichkeit, sich zu überlegen, ob der angebotene Job eventuell eine Falle sein könnte. Viele haben bereits Kinder, die sie nicht ernähren können, und Männer, die sich daheim im Alkohol ertränken. Alina hingegen träumte nur von einem besseren Leben. Und musste für ihren Gutglauben teuer bezahlen: Von ihrem Peiniger eingesperrt, mit Eisenstangen gefügig geprügelt und vergewaltigt, hat sie sich irgendwann aus dem Fenster ihres Gefängnisses gestürzt und schleppte sich schwer verletzt zur Polizei. Das Touristenvisum war natürlich längst abgelaufen, also wurde Alina abgeschoben.
Mit schweren Unterleibsentzündungen und seelisch völlig verstümmelt muss die 24-Jährige nun in Chisinau betreut werden. Ihre Freundin wurde ebenfalls Opfer von Menschenhändlern, ist von der jahrelangen Tortur psychisch gezeichnet. Sie sagt: "Ich kann allen Mädchen nur raten, in Moldawien zu bleiben. So schlecht kann es hier gar nicht sein. Daheim ist es immer noch am besten."
Opfer bringen
Trafficking-Experte Wyss kennt unzählige Schicksale, die dem von Alina täuschend ähnlich sind: "Jede Geschichte ist der absolute Horror. Die Mädchen wissen, was von ihnen erwartet wird. Nur nicht, in welcher Dimension. Aber das Geld, das zu verdienen ist, ist viel zu wichtig. Meist geht es auch darum, für jemanden ein Opfer zu bringen, oftmals für das eigene Kind."
Dunkelziffer
In den vergangenen drei Jahren konnte die IOM rund 300 Mädchen aus den Fängen ihrer "Besitzer" befreien und nach Moldawien zurückbringen. Wie viele Opfer es tatsächlich sind, kann selbst ein Insider wie Wyss nicht sagen, wahrscheinlich tausende: "Ganz ehrlich, wir wissen es nicht." In dem armen Land wird Mädchenhandel "im großen Stil" organisiert, bis vor kurzem war die Bekämpfung aussichtslos, verrät der Schweizer. 2006 ist in Moldawien übrigens ein Anti-Trafficking-Gesetz in Kraft getreten. Es gab auch schon Verurteilungen. Drei. (Von Andreas Tröscher/APA)