Mary Wollstonecraft wird vor allem seit den 1970er Jahren als eine Vorkämpferin für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert. In ihrer Schrift Verteidigung der Rechte der Frauen von 1792 hatte sie Selbständigkeit und Unabhängigkeit für Frauen gefordert und selbst diesen Weg eingeschlagen: Sie gründete eine Schule, arbeitete als Gouvernante und Journalistin und sorgte weitgehend selbst für ihren Lebensunterhalt. Sie wird denn auch unter die "großen Frauen Europas" eingereiht.

Karin Priester diskutiert Mary Wollstonecraft neu. Sie würdigt ihr Wirken ohne es zu romantisieren, und sie analysiert es durchaus kritisch. Mary Wollstonecrafts Überlegungen zum Ungleichverhältnis der Geschlechter, ihre pädagogischen Vorstellungen der Koedukation, ihre politischen Forderungen nach Grundrechten für alle Menschen muten immer noch modern an. Ihr Ideal einer blühenden, aufsteigenden Mittelschicht und ihre Entwürfe eines bürgerlichen Paternalismus relativieren den liberalen Impetus radikal. Kann eine solche Frau zu Beginn des 21. Jahrhunderts guten Gewissens eine der "Großen" feministischen Denkens genannt werden oder hat sie sich längst selbst diskreditiert? War sie in den 1970er Jahren zu Unrecht bejubelt worden?

Eindeutige Analyse

Karin Priesters Analyse ist eindeutig: Mary Wollstonecraft ist eine großartige Frau, aber sie ist keine Superfrau, die Lösungen für die Geschlechterdifferenz und andere Formen sozialer Ungleichheit parat hat, die stets korrekt und weit blickend war. Karin Priester stellt sie als eine Frau vor, die durchwegs ambivalent denkt und handelt: Sie ist leidenschaftlich und kühl; sie fordert von allen, Verantwortung zu übernehmen, und sie unterstützt zugleich ihre Familie finanziell; sie ist eine gefühlvolle Intellektuelle und eine harte Arbeiterin; sie attackiert Edmund Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution heftig und nährt zugleich die Vision von BürgerInnen als gute, sittsame Patrioten; sie verblüfft durch ihre Courage und versucht doch zweimal, ihrem Leben ein Ende zu setzen; sie fordert Frauen nachdrücklich dazu auf, sich nicht zu binden und verliert ihr Herz an Gilbert Imlay. Der verlässt sie, als die gemeinsame Tochter wenige Monate alt ist. Mary Wollstonecraft zieht Fanny alleine auf. 1797 heiratet sie William Godwin und stirbt im selben Jahr kurz nach der Geburt ihrer Tochter Mary, die als Autorin von Frankenstein Weltruhm erlangen wird.

Verdichtung

Karin Priester übersetzt diese außergewöhnliche Biographie in einen Text, dessen Struktur die beschriebene Charakteristik jener Frau verdichtet: Mary Wollstonecraft ist, so Priester, weder Historikerin noch Philosophin, weder Künstlerin noch Pädagogin – und doch etwas von all dem. Wie sie riskiert Karin Priester einiges: Sie mischt die Disziplinen. Sie schreibt einen spannenden Roman über eine außergewöhnliche Frau, und sie analysiert einen historischen Zeitabschnitt; sie schreibt über Mary Wollstonecrafts private Dispositionen, über die Motive ihres Handelns als Frau und als politisierte Denkerin und über dessen Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext und die komplexen politischen Strömungen dieser Zeit. Auf diese Weise entsteht ein faszinierendes, biographisches wie sozialhistorisches, sozialkritisches Buch.

Karin Priester gibt einer kraftvollen und sehr menschlichen Frau Raum, die nicht durch Perfektion und Heldentum brilliert, sondern durch ihren Mut, konsequent Grenzen anzutasten und sie letztlich zu überschreiten. Und genau das ist es – daran lässt Karin Priester keine Zweifel –, was Mary Wollstonecraft allemal zu einer der "großen Frauen Europas" macht, denn genau das verändert Geschichte und Gegenwart. (Gastautorin Andrea Bramberger)