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Alfred Adler (re.) kränkte Sigmund Freud, der mit Abspaltung und einer neuen Theorie reagierte.

Illu.: APA; Montage: Michaela Pass
1902 beendete Freud das, was er später seine "spendid isolation" nennen sollte: Aus dem Einzelforscher wurde ein "Team-Leader", der von nun ab immer Mittwoch Abend seine Thesen mit ausgewählten Interessenten diskutierte. Unter diesen war auch Alfred Adler, zu dieser Zeit vor allem als praktischer Arzt und Sozialmediziner tätig. Freud sollte ihn bald als die "einzige Persönlichkeit" der Gruppe bezeichnen und in ihn höchstes Vertrauen setzen. Als sich das Zentrum der psychoanalytischen Bewegung Richtung Schweiz und Zürich zu verlagern begann, ging dieses Vertrauen sogar so weit, dass Freud Adler zum Vorstand der Wiener Gruppe ernannte – was aber auch der Anfang vom Ende war: 1910, so der Kenner der Freud-Adler-Kontroverse, der in Salzburg ansässige Bernhard Handlbauer, begann Freud mit der systematischen Demontage Adlers, die 1911 mit einem völligen Bruch zwischen letzterem und den Begründer der Psychoanalyse endete.

Für diese Entwicklung gab es viele Gründe; persönliche, ökonomische, letztlich vor allem aber theoretische: Immer weiter hatte sich Adler laut Handlbauer von Freud und dessen Konzepten entfernt. So war an die Stelle der Freudschen, an Sexualität orientierten Neurosenlehre ein Modell der Organminderwertigkeit getreten, nach dem Neurosen auf minder oder noch nicht ausentwickelten Organen beruhen: Es sind Organschwächen, die bei Adler "psychologisch überkompensiert" werden, wie es Christine Diercks, Leiterin der "Wiener Psychoanalytischen Vereinigung" (WPV) formuliert, was in weiterer Folge zu Charakterneurosen führt.

Adlers Aggression

Dem nicht genug postulierte Adler 1908 einen eigenen Aggressionstrieb, den er als Motor des psychologischen Kompensationsgeschehens betrachtete: Mit einem "aggressiven Streben nach Überlegenheit", mit einem "Willen zur Macht", werden die organbedingten Minderwertigkeitsgefühle kompensiert. Die Bekämpfung dieses "Willens zur Macht" wird dementsprechend für Adler zur ureigensten Aufgabe des Therapeuten; er sollte das Machtstreben abbauen helfen und zu einer "Erziehung zur Gemeinschaft" beitragen.

Auch wenn Adler solche Formulierungen erst um und nach 1912 zu verwenden begann – Freud war das alles längst zu viel geworden. Wer ohne Triebtheorie oder ohne Konzepte von Widerstand und Übertragung auskommen wollte und den Fokus immer mehr von der unbewussten Psychodynamik auf die soziale Interaktion und damit Wert- und Bewusstseinsfragen verlagerte, hatte seiner Ansicht nach nichts mehr mit Psychoanalyse zu tun. Weshalb er Adler aus seinem Umkreis verbannte. Und damit zugleich die Geburt der Individualpsychologie initiierte, die Adler als "Dissident" ins Leben rief.

Allerdings: So wirklich voneinander los kamen die beiden in weiterer Folge auch nicht. Freud entdeckte den Aggressionstrieb für sich, wie auf der anderen Seite die Psychodynamik Schritt für Schritt wieder an Bord geholt wurde. Eine seltsame "Un-Beziehung" kam so in Gang, die bis heute andauert und von der Psychoanalytiker wie Individualpsychologen nicht so recht wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Wenngleich es nun auch erste vorsichtige Versuche gibt, daran etwas zu ändern: Nicht zuletzt aufgrund des großen Erfolgs im Vorjahr werden die Freud-Vorlesungen der WPV und des "Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse" (WAP), bei denen der STANDARD als Kooperationspartner fungiert, auch 2007 fortgesetzt. Nämlich mit dem Ziel, sich diverse Kontroversen und Schismen der Psychoanalyse einmal genauer anzusehen. Ein Kernthema dabei ist natürlich der Bruch zwischen Freud und Adler, der jedoch nicht nur rekonstruiert werden soll. Vielmehr geht es darum, zwischen Analytikern und Adlerianern etwas "in Bewegung" zu bringen.

Was jedoch leichter gesagt als getan ist. Weil mittlerweile, wie die erste der Freud-Vorlesungen vergangenen Samstag zeigte, doch zwei völlig verschiedene Denkschulen entstanden sind. Die Individualpsychologie hat etwas von einem "integrativ wirkenden Diskussionsforum", wie es Christine Diercks nennt, in dem psychoanalytische Momente genauso Platz haben wie verhaltenstherapeutische, während die Psychoanalyse noch immer streng an ihrem traditionellen Setting festhält und das Unbewusste ins Zentrum rückt.

So blieb es Samstag zu einem guten Teil doch beim Rekonstruieren und vorsichtigen "Betasten" – bis der Psychoanalytiker Franz J. Knasmüller die Frage aufwarf, wie denn die ganze Freud-Adler-Kontroverse aus psychodynamischer Perspektive aussieht:

Mit einem Mal war nun tatsächlich so etwas wie Bewegung zu verspüren, waren es nach Ansicht Knasmüllers doch "massive Spaltungstendenzen" in einem psychodynamischen Sinn, die 1910/11 die damals schon gegründete "Wiener Psychoanalytische Vereinigung" erschütterten: Was sich zu dieser Zeit innerhalb der WPV entfaltete war die Notwendigkeit, "das narzisstische Gleichgewicht" der Gruppe aufrecht zu erhalten, weil dieses gleich mehrfach gefährdet war: Einerseits "theoretisch", da Adler Freuds Thesen auf den Kopf stellte, andererseits "persönlich", weil Freud als Mensch getroffen war. Die Kränkung musste folglich abgewehrt werden, was mit Hilfe des Mechanismus der Abspaltung erfolgte: Das Neue – also Adler mitsamt seinen Thesen – wurde abgestoßen; nicht aus logischen oder ideengeschichtlichen Gründen, sondern weil das narzisstische Gleichgewicht sonst eingestürzt wäre.

Dass es um nichts anderes ging, zeigt sich für Knasmüller auch daran, dass bald darauf ausgerechnet der Narzissmus für Freud ein Thema wurde. Nicht nur weil er den Ansatz einer Narzissmus-Theorie, den Adler mit seinen Ideen zur Minderwertigkeit ja geliefert hatte, nun für seine Bewegung neu konzipieren musste, sondern wohl auch deshalb, weil eben ein von Narzissmus geprägter Prozess zwischen ihm und Adler stattfand, der jetzt gleich einem unaufgearbeiteten Rest in Freuds theoretische Arbeit einsickerte.

Damit war plötzlich die "eigentliche" Geschichte des Freud-Adler-Konflikts im Raum – und mit ihr eine (Denk-)Bewegung, die andeutete, welches Potential dieser Konflikt in sich birgt: Indirekt beginnt dort die Geschichte der Psychodynamik von Organisationen und Institutionen, die heute gerade langsam ein Thema wird.

Diese "eigentliche" Geschichte der Freud-Adler-Kontoverse legt aber auch nahe, dass sich die "eigentliche" Beziehung zwischen Psychoanalyse und Individualpsychologie in institutionellen Tiefenschichten abspielt, auf die hinzusehen die Freud-Vorlesungen gerade einmal begonnen haben. Und bezüglich denen nur zu hoffen bleibt, dass sie noch genauer erforscht werden.

Weil das, was sich zeigen könnte, in einer Welt der Institutionen interessant ist – weit über Therapie-Kontexte hinaus. (Christian Eigner/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. 2. 2007)