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Foto: APA/W. Feichtinger
Es ist sicher viel Verdrängung mit dabei. Aber ich habe die Sache mit den Eiern nie wirklich verstanden. Ich meine jetzt die größeren Zusammenhänge: Gebärmutter, zwei Eileiter, auf denen Eier reifen, die, wie mein Frauenarzt im Zuge seiner Erläuterungen zu den Wechseljahren neulich behauptete, an sich von Anfang an da sind und dann altern, im Gegensatz zum Samen, der, wie mein Frauenarzt sagte, immer frisch produziert wird. Dann fallen die Eier von der Leiter – oder wie soll man das sonst ausdrücken? – und schleichen durch den halben Körper, um, wenn sie Pech haben oder Glück – es kommt eben immer alles auf den Standpunkt an – befruchtet zu werden oder nicht.

Wanderung

Da gibt es dann wieder so ein kurzes Blitzlicht, das leuchtet in unseren Köpfen überall auf: Das wieselflinke Spermium, das – mit einer Art Peitschenschlag – durch dunkle Gänge und Höhlen rast (Stichwort: Wettlauf mit der Zeit!), um das Ei, die Zelle (die sich eigentlich wie dahinbewegt?) zu überfallen und – platsch – zu befruchten. Das sieht man doch direkt vor sich! Aber so ein Ei? Wie soll ich mir das vorstellen? Jetzt weiß ich es: wandernd! So sagt man doch: Das Ei wandert, befruchtet oder nicht, zur Gebärmutter, die offenbar grundsätzlich von einer Befruchtung ausgeht und alles schon einmal schön kuschelig hergerichtet hat: Dicke Blutpolster wurden angelegt, damit sich das befruchtete Ei bequem hineinschmiegen kann. Dann allerdings, wenn das Ei unbefruchtet angewandert kommt, wird Gebärmutti aber böse und stößt das unbefruchtete Ei samt all den schönen, kuscheligen Blutpolstern ab und schon hat frau Bauchkrämpfe, Übelkeit, Migräne, schlechte Laune. Aha, sagen der Chef, die Kollegen, der Ehemann, die Kinder: Sie hat mal wieder die Regel!

Hat sie sie nicht, ist es auch nicht viel besser. Schwangerschaftstests werden besorgt, Urinproben abgegeben, Aufregung allenthalben: Sie wird doch nicht … schon wieder … oder: noch immer … oder: in ihrem Alter!

Die Zeit davor

Wie war das eigentlich das erste Mal? Interessant: Die meisten Frauen, die ich kenne, wissen das noch. Was im Abstrakten verdrängt wird, bleibt eben konkret oft haften! Bei mir war es im Sommer. Unter "Ich hatte eine schöne Kindheit", konnte ich mir lange Zeit gar nichts vorstellen. In allerletzter Zeit, jetzt also, wo ich alt werde, weiß ich es genau: Es war die Zeit vor meiner ersten Regel!

Ich war zwölf und es waren Ferien. Alles war lebendig damals und an allem haftete Hoffnung. Der Hansi Hofmüller und ich hatten uns gefunden. Er war zwar ursprünglich auch einer dieser Knaben gewesen, die nichts anderes können als Bagger- oder Polizeiautos in der Gegend herumzuschieben, jeden zu stören, laut zu sein, zu raufen, sich und andere zu verletzen, in der Schule zu schwätzen, unaufmerksam zu sein, faul, dumm, dumpf vor sich hinzustieren, im Winter mit eisgefrorenen Schneebällen auf die Köpfe anderer zu zielen, nur in Schimpfwörtern oder Kürzeln zu sprechen, und so weiter und so fort, aber irgendwann war er schlagartig vernünftig geworden.

Zauberei

Wir spielten gemeinsam Zauberer, der Asphalt in den Straßen war heiß und schwitzte, die weißen Beeren an den Sträuchern hinter unserer Voest-Siedlung, die uns vor den Blicken der Eltern und der Nachbarn schützten, platzten schmatzend auf, wenn wir darauf traten. Es galt das, was wir dachten. Wir dachten, wir hätten die Macht, glücklich zu sein und unsere Eltern in Zwerge zu verwandeln, die den ganzen Tag Wäsche wuschen, kochten oder Geld verdienten. Wir verzauberten auch wildfremde Menschen auf der Straße, sodass sie einander grüßten oder an ihren eigenen Autos vorbeigingen. Aber dann zog Hansis Vater aus der gemeinsamen Wohnung aus. Hansi und ich versuchten den ganzen restlichen Sommer lang, ihn zurückzuholen. Wir konzentrierten uns so, dass wir dicht nebeneinander auf dem Boden hinter den Büschen sitzend, wo man uns nicht sehen konnte, gar nicht bemerkten, wenn der Himmel sich bewölkte und es zu regnen anfing oder dunkel wurde.

Hansi und seine Mutter

Unsere Mütter sorgten sich damals ununterbrochen um uns. Nicht dass Hansi seinen Vater besonders geliebt hätte. Er ahnte nur, welche Folgen eine allein erziehende Mutter für sein Leben haben würde. Hansi war nämlich für sein Alter sehr groß und kräftig, und seine Mutter war sehr klein und zierlich. Hansi kam überhaupt in allem nach seinem Vater. Nase, Augen, Mund, Stimme. Das würde ihm die Mutter niemals verzeihen. Hansi und ich pflückten dreiunddreißig weiße Knallbeeren, verrührten sie mit Löwenzahnsaft und Sandkastensand und spuckten beide dreiunddreißigmal hinein. Die Paste schmierten wir an Hauswände, ans Stiegenhausgeländer, auf Kellerfenster und in diverse Kleiderschränke seiner Mutter.

Dann setzten wir uns Hand in Hand auf die Steinstufen vor der Haustür und warteten, dass sein Vater zurückkäme. Es hieß, er habe eine blutjunge Freundin. Aber Hansi glaubte das nicht. Er war überzeugt, sein Vater habe einfach nur Ruhe haben wollen und sei darum ausgezogen. Hansis Mutter redete nämlich ununterbrochen. Hansi selbst war auch eher schweigsam. Manchmal war es schon ziemlich langweilig mit ihm, weil er stundenlang nichts sagte. Manchmal starrte er mich auch lange schweigsam an. Dabei bekam er meist rote Flecken auf den Wangen oder auf dem Hals. Solange wir die gemeinsame Aufgabe hatten, seinen Vater zurückzuzaubern, ging es ja noch. Er starrte mir halt manchmal ins Gesicht statt auf die in der Sonne wie Edelsteine glitzernden Kiesel auf dem Weg hinter den Büschen mit den weißen Beeren. Schlimm wurde es erst, als alles nichts mehr nützte. Eines Tages war klar: Hansis Vater hatte die Scheidung eingereicht.

Entfernung

Wir verfluchten ihn, indem wir seinen Namen auf ein Papier schrieben, das wir dann im Keller verbrannten. Danach umarmte mich Hansi und versuchte, mich zu küssen. Es war schrecklich. Hansi hatte haargenau die gleichen kleinen Augen, die gleiche große Nase, die gleichen breiten Lippen und die gleiche tiefe Stimme wie sein Vater. Unsere gemeinsame Zeit als Zauberer war damit beendet. Wir wussten beide, dass wir keine Macht mehr hatten. Manchmal versuchte Hansi, mir von seinem neuen Leben mit seiner Mutter zu erzählen. Aber meistens starrte er mich nur an und bekam rote Flecken auf den Wangen oder auf dem Hals. Ich begann mich zu verstecken, wenn ich Hansi nur von weitem sah. Seine Mutter schlug ihn, glaube ich. Manchmal hatte er rote Striemen im Gesicht. Je größer Hansi wurde, desto dicker wurde er und desto krummer schlich er durch unsere Siedlung. Eines Tages zogen sie um, und ich sah den Hansi Hofmüller nie wieder.

Zur Frau geworden

Kurz darauf bekam ich die Regel. Meine Mutter überreichte mir einen Gürtel, mit dessen Hilfe ich die Binden an meinem Leib fixieren sollte, obwohl es längst die selbstklebenden Binden gab und sagte: "Jetzt bist du eine Frau." Und mit einem Schlag war ich gar nichts mehr. Nicht nur, dass mir meine Zauberwelt abhanden gekommen war, auch in der wirklichen Welt war ich an die letzte Stelle gerückt. Allen unterlegen. Dem dicklichen Nachbarbuben aus dem Hof unterlegen, der immer schon auf den Hansi Hofmüller eifersüchtig gewesen war und der, seit Hansi weggezogen war, versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erringen, jedem dahergelaufenen Bagger- oder Polizeiauto schiebenden Knaben unterlegen, jedem störenden, lauten, raufenden, sich und andere verletzenden, in der Schule immer schwätzenden, unaufmerksamen, faulen, dummen, dumpf vor sich hinstierenden, mit eisgefrorenen Schneebällen auf die Köpfe anderer zielenden, nur in Schimpfwörtern oder Kürzeln sprechenden schmucklosen, fantasielosen Knaben unterlegen. Denn keiner von ihnen blutete ja so wie ich, einfach so. Monat für Monat wieder. Eine Schwachstelle für immer. Keiner.

Zum Heulen zumute

Der Bauch schmerzte schon Tage, bevor ich blutete. Er wurde auch größer. Auch der Busen. Bauch und Busen spannten Tage vor der Blutung. Ich selbst wurde seltsam weich, anhänglich, abhängig. Meine Nerven, die vorher immer wie Drahtseile gewesen waren, ließen nach. Ich hätte heulen können bei dem Gedanken, dass ich Hansi nicht hatte helfen können gegen seine Mutter. Am liebsten hätte ich mich an jemanden gehängt, der mich hielt. Aber es gab niemanden.

Binden

Alles um mich herum war grob und schmutzig. Die Poren meiner Haut waren größer als sonst. Auch meine eigene Nase. Meine Arme waren lang und haarig. Die Hände zu groß. Auf der Stirn hatte ich eitrige Pickel. Dann begann die Blutung mit starken Bauchschmerzen. Das Blut war kaum zu stoppen. Tampons mochte ich nicht. Ich wusste nicht, wo genau man sie hineinstopft, und ausprobieren konnte ich es nicht, weil alles blutete und nass war. Die Binden waren nicht immer dicht. Oder links und rechts von den Binden sickerte Blut auf meine Beine. Ich musste jederzeit damit rechnen, plötzlich einen dunklen Fleck auf der Hose zu haben, als hätte ich mich angemacht. Die Binden rochen, wenn ich sie wechselte, nach rohem Fleisch: Man darf sie nicht in die Toilette werfen, weil sie sonst alles verstopfen.

Sehnsucht

Ich bin jetzt eine Frau. Ich will aber keine Frau sein. Jedenfalls nicht unter diesen Bedingungen. Auf einmal, schlagartig, von heute auf morgen heißt eine Frau sein, Bauchschmerzen haben, heißt eine Frau sein, bluten, heißt eine Frau sein, anhänglich sein und abhängig sein, heißt, sich an jemanden hängen wollen, weinen wollen, heißt eine Frau, weich sein, Verständnis haben, putzen, kochen, Kinder kriegen, heißt eine Frau sein, kraftlos sein, verwundet sein, hilflos sein. Ich möchte die Zeit zurückdrehen, ich möchte sein, wie ich früher war, ich möchte mutig sein und glücklich, ich möchte über die Wiesen laufen und zaubern und Hoffnung haben. Aber nichts lässt sich zurückdrehen, und schon gar nicht die Zeit, und vor mir liegt bloß eine lange Zeit der Müdigkeit und Kraftlosigkeit und Mutlosigkeit, als ob ich die Schlacht jetzt schon verloren hätte. Für immer. (Margit Schreiner, DER STANDARD, Printausgabe, 3./4.3.2007)