Die Ernährungspyramide zeigt wie eine "gesunde Mischkost" aussieht.
(Grafik: Fonds Gesundes Österreich)

Grafik: Fonds Gesundes Österreich

Zur Person
Angela Mörixbauer ist Ernährungswissenschafterin in Wien und Perchtoldsdorf. Sie gründete 2003 das Beratungsunternehmen "eatconsult" und ist Autorin zahlreicher Ernährungsbücher, wie "Die 50 größten Diät-Lügen".

Sie beschäfigt sich seit Jahren intensiv mit Functional Food und Nahrungsergänzungsmitteln und war an der kürzlich erschienen Publikation "Funktionelle Lebensmittel - Wer braucht sie?" der AK-NÖ maßgeblich beteilig.

Foto: eatconsult
Ernährung ist nicht nur eine Notwendigkeit, sondern ein harter Markt mit zwei großen Gewinnern: Die Bioprodukte einerseits und das sogenannte "Functional Food" andererseits - Die Ernährungswissenschafterin Angela Mörixbauer im Interview mit Andrea Niemann über den Sinn und Unsinn von zugeführten Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen.

derStandard.at: Milchprodukte werden zum Knochenaufbau und zur Osteoporoseprofilaxe empfohlen, andererseits sagen Studien, dass das Kalzium nicht im Knochen verwertet wird. Was ist ihre Meinung?

Mörixbauer: In unseren Breiten sind Milchprodukte als Kalziumlieferanten und damit für die Knochengesundheit ein unverzichtbarer Baustein in der täglichen Kost. Wenn keine medizinischen Gründe vorliegen – wie eine echte Milcheiweißallergie oder eine Milchzuckerunverträglichkeit – besteht kein Grund, auf Milchprodukte zu verzichten. Das Kalzium aus der Milch ist für den Knochenstoffwechsel gut verfügbar.

Mehrere Studien untermauern, dass regelmäßiger Konsum von Milch und Milchprodukten, besonders während der Adoleszenz, maßgeblich zum Erreichen einer möglichst hohen Peak Bone Mass beiträgt und weisen einen positiven Zusammenhang zwischen Knochendichte und Milchzufuhr nach.

derStandard.at: Wie sieht es mit Salz aus? Ist aus ernährungswissenschaftlicher Sicht Himalayasalz oder Ursalz besser als unser jodiertes Speisesalz?

Mörixbauer: Nein. Himalayasalz oder Ursalz besitzt aus ernährungswissenschaftlicher Sicht keine Vorteile gegenüber herkömmlichem, jodiertem Speisesalz. Auch diese Salzsorten bestehen – genauso wie herkömmliches Speisesalz – zu rund 98 Prozent aus Natriumchlorid. Die restlichen 2 Prozent lassen auch keine Wunderwirkungen erwarten. In Analysen findet man – ebenso wie in herkömmlichem Speisesalz – Spuren anderer Mineralien, wie zum Beispiel Magnesium, Kalzium oder Eisen. Deren Mengen sind im Essalltag aber vernachlässigbar gering.

derStandard.at: In Deutschland muss das Salz nicht jodiert sein, warum bei uns?

Mörixbauer: Sie haben Recht, in Österreich ist die Jodierung von Speisesalz aufgrund des Speisesalzgesetzes seit den 1960er Jahren verpflichtend, weil dadurch der Schilddrüsenvergrößerung, dem Kropf, bei Jodmangel erfolgreich vorgebeugt werden kann. In Deutschland ist die Jodierung von Speisesalz derzeit nicht verpflichtend und auch Spezialsalze sind nicht zwingend jodiert. Ein Blick auf das Etikett lohnt sich daher.

derStandard.at: Kann der Körper bei abwechslungsreicher Ernährung alle Stoffe die er braucht aus der Ernährung beziehen?

Mörixbauer: Ja. Gesunde Menschen, die sich an den Empfehlungen der Ernährungsgesellschaften orientieren und diese in den Essalltag umsetzen, brauchen keine Angst vor einer Unterversorgung mit Nährstoffen zu haben. Ausnahmen sind Menschen, die aus medizinischen Gründen bestimmte Lebensmittel oder Lebensmittelgruppen meiden müssen, zum Beispiel Allergiker.

Je nach Lebensmittelgruppe, die gemieden oder eingeschränkt werden muss, kann es Sinn machen gezielt Nahrungsergänzungsmittel oder angereicherte Lebensmittel zu konsumieren. Beispiele sind Kalzium bei Milcheiweißallergie oder auch extreme Reduktionsdiäten über längere Zeit (Kombinationspräparate).

derStandard.at: Welche Produkte sind da empfehlenswert?

Mörixbauer: In diesem Fall sollten die Betroffenen unbedingt eine individuelle Ernährungsberatung durch eine Fachkraft in Anspruch nehmen um die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Nahrungsergänzungen abzuklären.

derStandard.at: Hersteller von Vitaminkapseln verwenden gerne das Argument der gesunkenen Lebensmittelqualität. Ist diese Abnahme an Mineralien und Vitamine in Obst und Gemüse belegbar?

Mörixbauer: Nein, dieses Argument konnte noch von keinem Vertreiber schlüssig belegt werden. Dieses Vorurteil wird unter anderem für zum Teil ausgesprochen aggressiv formulierte Werbeaussagen verwendet, insbesondere von Direktvertreibern. Die Daten- und Faktenlage dazu ist aber insgesamt mager, teilweise widersprüchlich und hält einer wissenschaftlichen Analyse vielfach nicht stand. Tatsache ist, dass es nur bei einigen Mikronährstoffen in manchen Bevölkerungsgruppen zu Versorgungsengpässen kommen kann.

derStandard.at: Welche "Engpässe" sind da gemeint?

Mörixbauer: Deren Ursache liegt meistens im falschen Umgang mit den Lebensmitteln, wie zu lange Lagerung, falsche Lagerung oder zu langes Kochen. Oder schlicht daran, dass zu wenig frisches Obst, Gemüse oder Vollkornprodukte gegessen werden. Experten schätzen den Nährstoffgehalt der Böden im Vergleich zu früher heute sogar als besser ein. Dies ergab eine in Deutschland durchgeführte bundesweite Expertenbefragung.

derStandard.at: Welche Produkte würden Sie als "Nährstofflieferanten" empfehlen?

Mörixbauer: Obst und Gemüse aus der Region und entsprechend der Saison. Da kann das Obst und Gemüse lange genug an der Pflanze reifen und Nährstoffe ausbilden und hat nur kurze Transportzeiten hinter sich. Das trägt zu einem hohen Gehalt an wertvollen Inhaltsstoffen bei.

derStandard.at: Gilt das auch für die sogenannten "Risikogruppen", wie alte Menschen, Schwangere oder Raucher?

Mörixbauer: Für einige Bevölkerungsgruppen macht die gezielte und zeitlich begrenzte Einnahme von bestimmten Präparaten Sinn, wie zum Beispiel Vitamin D bei älteren und bettlägrigen Menschen.

derStandard.at: Weshalb?

Mörixbauer: Vitamin D wird zu einem großen Teil in der Haut durch UV-Licht gebildet. Wer sich krankheitsbedingt wenig im Freien aufhält kann eventuell von einer Vitamin-D-Suppelementierung profitieren.

Ein anderes Beispiel: Folsäure, ein B-Vitamin, ist für Frauen mit Kinderwunsch und am Anfang der Schwangerschaft eines der wichtigsten Vitamine. Folsäure senkt nachgewiesenermaßen das Risiko für bestimmte Missbildungen (Neuralrohrdefekt).

derSatndard.at: Rauchern wird seit Jahren Vitamin C empfohlen.

Mörixbauer: Ja, Raucher haben einen erhöhten Vitamin C-Bedarf. Allerdings ist es in der Regel kein Problem, diesen über normale Lebensmittel zu decken. Umgekehrt sollten Raucher wirklich bei Beta-Carotin Präparaten aufpassen: In Studien wurde ein Zusammenhang zwischen isolierten Beta-Carotin-Suppelemente und dem Auftreten von Lungenkrebs beobachtet.

derStandard.at: Vegetariern wird häufig ein Proteinmangel prophezeit. Ist das berechtigt?

Mörixbauer: Nein, solange es sich um Ovo-lacto-Vegetarier handelt, die auch Eier sowie Milch und Milchprodukte in ihren Speiseplan einbauen ist die Eiweißversorgung gesichert. Auch Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte sind gute pflanzliche Eiweißlieferanten.

derStandard.at: Was ist der Unterschied zwischen pflanzlichem und tierischen Einweiß?

Mörixbauer: Eiweiß besteht aus einzelnen Bausteinen, den Aminosäuren. Davon gibt es verschiedene. Je nachdem, wie diese Aminosäuren in einem Eiweiß kombiniert sind, kann vom Körper mehr oder weniger körpereigenes Eiweiß aufgebaut werden. Tierisches Eiweiß (Fleisch, Fisch, Milch, Eier) ist dem körpereigenen Eiweiß von der Zusammensetzung her ähnlicher, so dass weniger davon benötigt wird.

Aber auch pflanzliches Eiweiß kann durch geschickte Kombination aufgewertet werden.

derStandard.at: Wie kann man sich das vorstellen?

Mörixbauer: Zum Beispiel durch Kombinationen wie Kartoffel und Ei, dem "Gröstel". Oder durch Palatschinken. Das ist Vollkorngetreide mit Milch. Auch die Kombination von Hülsenfrüchte mit Vollkorngetreide ist empfehlenswert. Ein Beispiel dafür wäre eine Erbsensuppe mit Brot.

derStandard.at: Immer wieder liest man von wahren Wunderkuren: zur Zeit sind die Carotinoide und Betacarotin darn. Davor waren es die Flavonoide, und ganz am Anfang stand das "gesunde" Vitamin C. Was halten sie davon?

Mörixbauer: Die Wirksamkeit hoch dosierter, isolierter sekundärer Pflanzenstoffe, wie Carotinoide oder Flavonoide, ist noch zu wenig erforscht. Man weiß, dass viele Substanzen aus dieser Stoffgruppe für den Menschen positive Wirkung haben, wie zum Beispiel der Schutz vor schädlichen Sauerstoffradikalen. Was aber fehlt ist das Wissen über den tatsächlichen Bedarf und zur Dosierung.

Auf der sicheren Seite ist man, wenn man diese Substanzen in Form von Obst, Gemüse und Vollkorgetreide aufnimmt.

derStandard.at: Und der Klassiker "Vitamin C gegen Erkältungskrankheiten", wie wirkt dieser?

Mörixbauer: Dass hohe Dosen Vitamin C vor Erkältungen schützen, konnte nicht belegt werden. Untersuchungen weisen sogar darauf hin, dass die antioxidative Kapazität (eine Maßzahl für die Schutzwirkung vor freien Radikalen) größer ist, wenn man täglich einen Apfel isst als täglich ein Gramm (=10fache des Bedarfs) an Vitamin C (Ascorbinsäure) isoliert aufzunehmen. Die antioxidativen Schutzstoffe im natürlichen Pflanzenverbund scheinen sich optimal zu ergänzen.

derStandard.at: Können Überdosierungen zu gesundheitlichen Problemen führen?

Mörixbauer: Das hängt ganz vom Nährstoff ab. Zuviel Eiweiß zum Beispiel durch Eiweißpulver belastet die Niere und kann langfristig zu Nierenfunktionsstörungen führen.

Zuviel Vitamin C über längere Zeit erhöht das Risiko für Harnsteine. Und Raucher, die zuviel isoliertes Beta-Carotin aufnehmen erhöhen wie schon erwähnt ihr Risiko für Lungenkrebs.

derStandard.at: Die Radikalfänger Vitamin A und E sind nun auch in Verruf geraten. Eine kürzlich präsentierte Metastudie spricht sogar von deutlicher Verkürzung der Lebenserwartung durch eine Übersosierung. Müssen wir nach dem Zeitalter der "Vitamin -Mineralstoffpillen" jetzt zunehmend mit möglichen Nebenwirkungen bei Überdosierungen rechnen?

Mörixbauer: Wie in anderen Lebensbereichen gilt auch hier: Die Menge macht das Gift. Daher gibt es auch bei Vitaminen sowohl ein Zuwenig wie ein Zuviel. Wer sich an die Empfehlungen für eine abwechslungsreiche Mischkost hält braucht keine Zusatzpräparate und kann daher auch nicht überdosieren.

derStandard.at: Und wenn ich das Gefühl eines "Magels" habe?

Mörixbauer: Wer glaubt, Vitaminpräparate einnehmen zu müssen, sollte die Notwendigkeit zuvor mit einem Ernährungsexperten besprechen und abklären lassen.

Die Zunahme von angereicherten Lebensmitteln in den Supermarktregalen macht es aber durchaus hin und wieder notwendig, genauer hinzusehen. Gerade bei einseitiger Lebensmittelauswahl von angereicherten Lebensmitteln kann es mittel- und langfristig durchaus zu sehr hohen Zufuhrmengen einzelner Nährstoffe kommen, deren langfristige Wirkung noch nicht in jedem Fall bis ins Letzte bekannt ist.

derStandard.at: Warum glauben Sie werden angereicherte Lebensmittel so gerne gekauft?

Mörixbauer: Manche erkaufen sich damit das gute Gewissen, weil Obst und Gemüse zu kurz kommen. Manche erhoffen sich einen gesundheitlichen Zusatznutzen – nach dem Motto "viel hilft viel". Immer mehr Frauen sind selbst berufstätig und haben wenig Zeit zum Einkaufen und Kochen, da scheinen Kinderlebensmittel, die "alles Notwendige" enthalten eine – vermeintlich – einfache Lösung zu sein.