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Foto: AP/Lionel Cironneau

Als Zubringer zu den Seen des Mercantour- Nationalparks ist der Train des Merveilles ebenso gut geeignet wie als Kulinarik-Taxi zu den Backblechen auf den Dächern von Saorge.

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"Nice St. Roch" leuchtet in orangeroten Buchstaben auf der Anzeigetafel im Wagon. "Ganz in der Nähe, auf dem Mont-Gros, erbaute Charles Garnier 1892 sein berühmtes Observatorium", erklärt Patricia Rossi und setzt noch einen drauf: "Gustave Eiffel krönte es mit einer Kuppel." Mit ihrem italienischen Namen, dem zur Leinenhose passenden cremefarbenen Hemd, den bequemen dunkelbraunen Ledersandalen und der schwarzen Perlenkette entspricht sie der klassischen Niçoise. Damen wie sie trifft man in Nizza normalerweise morgens zwischen 11 und 12 Uhr in der Fußgängerzone beim Shopping oder in einem der Straßencafés bei einer Noisette, dem französischen Espresso mit Milchschaum.

Heute ist die Fremdenführerin der "Association des Guides Créatives Riviera" damit beschäftigt, historische Erklärungen zur Zugstrecke des "Train des Merveilles" von Nizza in das Roya-Tal abzugeben - für eine geführte Gruppe. Normalerweise erhalten Bahnreisende diesen Service über Lautsprecher.

Der Zug ist abgefahren

Die ursprüngliche Idee, Nizza durch eine Bahnlinie mit dem Hinterland zu verbinden, stammt aus der Zeit von König Viktor Emanuel II. von Sardinien-Piemont.

Nizza, bis Mitte des 19. Jahrhunderts italienisch, sollte nach dem Willen von Viktor Emanuel an das italienische Hinterland angegliedert werden. Der König versprach seinen Untertanen im Jahr 1856 den raschen Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Nizza und Cuneo. Doch erst 1904, als in Nizza längst die Trikolore wehte, begannen die Bauarbeiten für die Strecke entlang der Flüsse Paillon und Roya, die von der Stadt aus ins heutige Grenzgebirge nach Italien führt.

Jetzt schlängelt sich der Zug am Fluss Paillon entlang vorbei an gesichtslosen Hochhaussiedlungen. "Das ist Nice-Ariane", erklärt Patricia, "die Siedlungen wurden in den 1960er-Jahren gebaut."

Sie kennt die Haltestellen auf der Strecke des "Train des Merveilles" ganz genau: "Am besten, man steigt in einem Dorf aus, isst dort gut und fährt mit dem nächsten Zug weiter." Dazu lässt sie noch schnell den Namen "Auberge de la Madonne" fallen, ihr Lieblingsrestaurant in Peillon.

Station für Aussteiger

Tatsächlich eignen sich gerade die Dörfer Peillon und Peille auch gut als Ausgangsorte für Wanderungen. Am Ortseingang von Peillon befindet sich ein Wanderweg, der in zwei Stunden durch das Bergland nach Peille führt. Dieser Weg wurde schon in römischer Zeit genutzt. Der Ort Peillon selbst ist nicht nur wegen der Restaurants das Aussteigen wert. Der historische Kern besteht aus engen Gassen, in denen sich Steinhäuser eng übereinander stapeln.

Peille hängt wie ein Felsennest an einem steilen Berghang. In einer restaurierten Kapelle aus dem 13. Jahrhundert ist heute das Rathaus untergebracht. Wer gerne klettert, schlägt von hier aus den Weg in Richtung Via Ferrata ein. Die Klettersteige sind jedenfalls mit verankerten Leitern, Rampen und Hängebrücken ausgestattet.

Am Ende in Tende

Tende bietet mit dem Nationalpark Mercantour die Möglichkeit, zwischen vielen kleinen Alpenseen zu wandern. Als Endstation des "Train des Merveilles" löst sich hier auch das Geheimnis um den Namen des Zuges: Im "Musée des Merveilles" mit seiner Sammlung an prähistorischen Felsgravierung. Die rätselhaften Zeichnungen der ligurischen Urbevölkerung haben das Vallée des Merveilles berühmt gemacht. Rund um den Mont Bego, der rund zwölf Kilometer von Tende entfernt liegt, wurden die wundersamen Steinritzungen gefunden, die zu den bedeutendsten vorchristlichen Kunstwerken Frankreichs gehören.

Das ungewöhnlichste Dorf auf der Zugstrecke ist Saorge, das man über die Haltestelle "Fontan-Saorge" mit einem Pendelbus erreichen kann. Hoch über dem Tal der Schlucht Gorges de Saorge presst sich eine Ansammlung von Häusern an einen steil abfallenden Felsenhang. "In meinem Wohnhaus haben sich im Laufe der Zeit acht Stockwerke übereinander aufgetürmt", erklärt Lydie Staub-Liprandi, Einwohnerin und wandelndes Tourismusbüro von Saorge, als sie an der Kirche Saint-Sauveur ankommt und die versperrte Tür öffnet. Das schönste Stück ist die Orgel, die an ein kleines Theater erinnert. "Diese Orgeln sind in der Gegend eine Rarität", sagt Lydie und erklimmt die Empore. Sie erklärt, nachdem sie den Register mit der Aufschrift "La Voce Umana" gezogen hat, dass nur diese Orgel den besonderen Charakter besitzt, der an menschliche Stimmvibration erinnert.

Zurück im Freien zeigt Lydie stolz die Schiefertafeln, die auf den Häusern von Saorge als Dachziegel fungieren. "Zwischen diesen Tafeln wurde früher die Torta de Ble gebacken", sagt sie.

Die Torta de Ble ist ein köstlicher salziger Kuchen aus dünnem Teig und Gemüse, den man von Bordighera bis Nizza in jeder Bäckerei finden kann. Lydie erzählt, dass man früher die Schieferplatten im Feuer heiß werden ließ und dann den Kuchen einfach dazwischenschob, bis er fertig gebacken war. Welche Schiefertafel unter den Dachziegeln damals als Backblech diente, kann selbst Lydie nicht mit bestimmter Sicherheit sagen. (Bettina Louise Haase/DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.3.2007)