Walter Kohn, Eric Kandel, Jack Steinberger, Henry Kissinger, Carl Djerassi - es gibt zahlreiche prominente Beispiele von als Kind Vertriebenen, die in den USA Karriere - von Nobelpreis über Wirtschaft bis zur hohen Politik - gemacht haben. Doch die zwei Harvard-Wissenschafter wollten nicht den Erfolg Einzelner erfassen, sondern erstellten eine "kollektive Biografie" der ehemaligen Flüchtlinge, die in Deutschland oder Österreich zwischen 1918 und 1935 geboren wurden und zwischen 1933 und 1945 in die USA kamen. Um den Gruppenerfolg der so genannten "Zweiten Welle" von Flüchtlingen erstmals zu quantifizieren, analysierten sie statistische Daten (US-Volkszählungen, "National Jewish Population Survey", "Who's Who"-Datenbank).
Befragungen
Zudem interviewten sie 100 Personen (die in der Studie anonymisiert wiedergegeben werden) und werteten 2.500 im Rahmen einer Befragung mittels Fragebogen erhaltenen Antworten aus - zu zwei Dritteln von Männern, zu einem Drittel von Frauen. Rund 1.800 davon waren ehemalige Flüchtlinge, die im Schnitt aus guten bis gehobenen Verhältnissen kamen und von denen knapp die Hälfte ohne Vater oder Mutter in die USA immigriert waren (Rest: US-Kontrollgruppe, Anm.).
Erfolge
Vergleiche des Einkommens, der Bildung und der Berufstätigkeit der als Kinder Vertriebenen mit US-Bürgern ergaben, dass die "Immigrantengruppe bis 1970 in den USA bereits sehr erfolgreich war", so die zwei Autoren, die als ersten Beleg dafür die Aufnahme in die Seiten des "Who's Who" anführen. So hätten es beispielsweise 2,5 Prozent der ehemaligen Flüchtlinge (mehr als 25 von Tausend) in die Personenenzyklopädie geschafft, hingegen nur knapp 0,2 Prozent aller gleichaltrigen US-Bürger. Für einen jüdischen Emigranten war es somit 15 Mal wahrscheinlicher, in den "Who's Who" eingetragen zu werden als für einen Amerikaner. Der Erfolg der gelisteten Emigranten führte dabei am ehesten - nämlich bei 28 Prozent - über die Natur- und Ingenieurswissenschaft sowie die Architektur.
Das jährliche Einkommen der Vertriebenen übertraf bei weitem jenes der US-Bevölkerung: Sie verdienten 85 Prozent mehr als US-Bürger, schreiben Sonnert und Holton. Der Einkommensvorteil der ehemaligen Flüchtlinge könne aber kaum auf den Transfer von familiärem Vermögen, das in Mitteleuropa angehäuft wurde, zurückgeführt werden.
>>> Karriereerfolge und Befinden.
Karriereerfolg
Auch die Berufstätigkeit zeigt den Karriereerfolg der "Zweiten Welle": 41 Prozent der männlichen Vertriebenen seien - im Gegensatz zu 14,5 Prozent der US-Männer - in der Top-Kategorie ("Professionals") der US-Volkszählung 1970 geführt worden (26 Prozent waren in der nächsten Kategorie "Managers" notiert - gegenüber 14 Prozent unter den amerikanischen Männern). Bei den weiblichen Vertriebenen gab es rund 26 Prozent "Professionals" gegenüber 14 Prozent der Amerikanerinnen.
Eines der bemerkenswertesten Ergebnisse sei, dass fast die Hälfte der Männer unter den ehemaligen Flüchtlingen - trotz der schwierigen Umstände zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in den USA - bis 1970 bereits vier oder mehr Jahre der Hochschulbildung absolviert hatte. Damit hätten sie bei weitem den Ausbildungsstand der gleichaltrigen Männer in Deutschland und Österreich übertroffen. Auch bei den US-Bürgern waren es nur 15 Prozent. Die männlichen ehemaligen Flüchtlinge hätten zwar eher den Zugang zur Bildung gehabt als die Frauen, doch auch diese schnitten im Vergleich mit ihrer weiblichen US-Kontrollgruppe sehr gut ab.
Naturwissenschaften und Sprache
Den Schwerpunkt bei den Naturwissenschaften führen die Studienautoren u.a. darauf zurück, dass die linguistischen Fähigkeiten in diesem Bereich - im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften und dem Rechtswesen - eine kleinere Rolle spielen. Allerdings lernten die Immigranten sehr schnell Englisch: 70 Prozent der Befragten gaben an, dass sie die Sprache altersgerecht in weniger als einem Jahr nach Ankunft in den USA gekonnt hätten.
"Die jüdische Herkunft selbst kann nicht eine ausreichende Erklärung für den Erfolg sein", schließen die Autoren aus einem Vergleich der Vertriebenen mit in den USA geborenen Juden. Ihre Hypothese lautet, dass der sozioökonomische Erfolg durch die nur unvollständige Assimilation der Emigranten ermöglicht worden ist. Die Wissenschafter unterstreichen dabei die Bedeutung des "kulturellen Kapitals". Auch wenn sich die Flüchtlinge linguistisch sehr schnell angepasst hätten, so hätten sie sich auf Grund ihrer europäischen Herkunft gewisse "Besonderheiten" in anderen Dimensionen und damit einen Vorteil erhalten.
Hoher psychologischer Preis
Nicht zu vergessen: Trotz des sozioökonomischen Erfolgs mussten viele ehemals Geflüchtete einen hohen psychologischen Preis zahlen. Ein Befragter gab etwa an, dass "das Gefühl von Mangel an Stabilität und Mangel an Gelassenheit ein Teil meiner Persönlichkeit wurde." Viele hätten sich immer als Außenseiter gefühlt. Ein Ergebnis ihrer Studie sei, so die Autoren, "dass der sozioökonomische Erfolg und der geleistete Gesellschaftsbeitrag sehr oft durch intensive Gefühle von Angst und Unsicherheit motiviert waren". Außergewöhnliche Leistungen seien quasi eine Notwendigkeit zum Überleben gewesen.
Mit dieser Studie wollten die Autoren einige mögliche Erklärungen "für den auf den ersten Blick unwahrscheinlichen Erfolg" der ehemaligen Flüchtlinge ergründen. Ein Teil der Ergebnisse darüber, was zum Erfolg der "Zweiten Welle" beigetragen hat, könne hoffentlich auch für heutige Flüchtlingsbewegungen bedeutend sein.
>>> Erleben und Zitate.
Eine kalte bis wenig gastfreundliche Haltung der Bürger, eine
rigide Immigrationspolitik und die Nachwirkungen der
Weltwirtschaftskrise 1929 mit verbreiteter Arbeitslosigkeit und Armut
prägten in den 1930er und 1940er Jahren in den USA das soziale Klima.
Die Immigration der jüdischen NS-Flüchtlinge, die häufig aus oberen
und mittleren Einkommensschichten stammten, ging in vielen Fällen
einher mit dem Zerfall des Familienvermögens und des sozialen Status.
"In einem sehr kleinen Appartement zu leben. Ich meine, vom Leben im
totalen Komfort zum Leben mehr oder weniger in Armut, vom Millionär
zum Tellerwäscher sozusagen, es war eine Sache des Überlebens, und
das ist alles, an was ich mich erinnere", so ein Befragter. Viele Väter, die zuvor hohe akademische Grade und berufliche
Positionen erreicht hatten, fanden mit ihrer Qualifikation in den USA
keine Anerkennung. Die Kinder mussten sehr schnell Verantwortung
übernehmen: "Ich war der einzige Brotverdiener der Familie. Und ich
war sehr stolz darauf, dass ich der Einzige war, der das Geld
verdiente." Ein anderer: "Ich denke, auf eine Art war ich
Erziehungsberechtigter und sie waren die Kinder." Trennung von den Eltern Doch knapp die Hälfte der Befragten gab an, ohne Vater oder Mutter
in die USA immigriert zu sein. Diese waren von vornherein auf sich
gestellt und mussten zudem mit der Trennung von ihren Eltern umgehen.
Eine Frau, die mit 17 Jahren mit ihren Eltern wieder vereint wurde:
"Ich hatte kein Gefühl mehr für meine Mutter, wir waren so lange
getrennt gewesen, und ich hatte quasi meine Kindheit ausgelebt." Werte Viele der Befragten verwiesen auf Werte wie "Pünktlichkeit,
Respekt von Autoritäten, Verlässlichkeit, intensive harte Arbeit" als
besonders prägend und unterstützend für Karriere in den USA. Ein
Befragter: "... sich Ziele zu setzen und ordentlich und planend zu
sein ... Ich denke, das ist Teil der Gene, Teil des Erbes, Teil des
Genpools. ... das hat, glaube ich, einen Einfluss auf meinen Erfolg
gehabt." Doch es gab auch kritische Stimmen, die sich gegen die
autoritäre Kindererziehung und den Unterrichtsstil in ihrer frühen
Kindheit in Mitteleuropa aussprachen. Reaktionen auf die Flucht und die Immigration waren - im positiven
Fall, aber doch relativ verbreitet - Entschlossenheit,
Einfallsreichtum und Eigenständigkeit. Zerrissenheit und die
Versetzung trieben viele Flüchtlinge mehr an und machten sie
strebsamer. "Es ist fast wie in einem Computer, du hast Programme,
die ständig im Hintergrund laufen." "Ich glaube, meine Lebensursprünge trieben mich sehr an. Ich
glaube nicht, dass meine Eltern jemals sagten, dass wir eine
spezielle Verantwortung hatten, aber ich glaube, ich habe immer
gefühlt, dass ich eine spezielle Verantwortung hätte, weil es uns
möglich war zu entkommen, weil es uns möglich war, hierher zu
emigrieren - mit all diesen Möglichkeiten." Belastung Der Preis des sozioökonomischen Erfolgs war hoch: Viele der
ehemaligen Flüchtlinge berichteten von Anzeichen einer
posttraumatischen Belastungsstörung. "Ich arbeite wahrscheinlich
härter als andere Menschen. Ich bin ein Workaholic. Vielleicht ist
das eine weitere Reflexion von Unsicherheit. Und ohne Zweifel war ich
sehr darauf erpicht erfolgreich zu sein, wurde ich doch aus
Deutschland rausgeschmissen." Viele fühlten sich zeitlebens in den
USA "wie ein Außenseiter". "Der Schuldfaktor ist sehr verbreitet in
mir. Warum wurde ich ausgespart?" Eine Möglichkeit, mit dem Trauma
umzugehen, verbalisiert ein Anderer: "Erfolg ist die beste Rache". 89 Prozent der Befragten waren wenigstens ein Mal in ihre alte
Heimat zurückgekehrt, über die Hälfte von ihnen häufiger als drei
Mal. Viele zeigten sich über die jüngere Nachkriegsgeneration positiv
überrascht, die ernsthaft interessiert gewesen wäre, dass es nicht
wieder ein ähnliches Regime würde. Doch sie waren misstrauischer
gegenüber der Menschen aus ihrer eigenen Generation und Älteren: "Was
taten sie unter Hitler?" war eine ihrer zentralen Fragen.
(APA)