Es passierte auf dem Heimweg. Der 15-jährige Adam Regis hatte sich einen Kinofilm angeschaut und nahm gegen 21 Uhr einen Bus für die Heimfahrt. Da muss er sie getroffen haben: zwei Jugendliche, farbig wie er selbst, in der für die Londoner Gangkultur typischen Uniform von Kapuzenshirt und Schlabberjeans.

Die zwei jagen Adam Angst ein, er steigt eine Meile früher aus als nötig. Seine späteren Mörder folgen ihm, stellen ihn und ziehen ihre Messer. Sie stechen ihn in die Brust. Adam bricht zusammen. Passanten sehen die zwei davonrennen. Das Opfer wird in ein nahegelegenes Spital gebracht, wo er an inneren Blutungen stirbt.

Die Briten sind entsetzt, eine Nation fragt sich, was mit ihren Kids los ist. Denn der Fall von Adam Regis ist nur das jüngste Beispiel einer Serie von Messerstechereien unter Teenagern. Erst vor Kurzem kam es in Westlondon zu einem besonders fürchterlichen Vorfall. Der 16-jährige Kodjo Jenga wurde von einer Gruppe von Jugendlichen mit Baseballschlägern und Messern traktiert.

"Kill him!" 13-jährige Mädchen feuerten ihre Freunde an: "Kill him, kill him!" Sie hielten die Freundin Kodjos fest, die mit ansehen musste, wie er in einem förmlichen Blutrausch abgestochen wurde. Zwei Buben im Alter von 13 Jahren sowie ein 14- und ein 16-Jähriger wurden festgenommen, sie sitzen in Untersuchungshaft.

Das Messer ist mittlerweile die Waffe der Wahl unter britischen Schulkindern. Kane Mackenzie, der ein Schulfreund von Adam Regis war, sagte: "Man sieht immer eine Menge Kämpfe außerhalb der Schule, und alle meine Kumpel kennen Leute, die Messer mit sich führen. Ich bin nicht überrascht, dass das passiert ist. Ich habe immer Angst, wenn ich aus der Schule gehe, und sehe zu, dass ich nicht alleine bin." Charlene Ghite, 16 Jahre alt, hat ebenfalls keine Illusionen mehr: "In dieser Gegend kannst du abgestochen werden für die Art und Weise, wie du jemanden anschaust."

Es ist ein Teufelskreis: Die einen tragen Messer, um zuzustechen, die anderen denken, sie müssten ebenfalls Messer haben, um sich zu verteidigen. Wer eine Stichwaffe besitzt, muss mit bis zu zwei Jahren Gefängnis rechnen. Aber das kümmert die Kids wenig, sie sehen sowieso keine Zukunft für sich selbst.

Es sind aber nicht nur Messer. Immer mehr Schusswaffen finden sich in den Händen von Schulkindern. Vor vier Wochen kam es zu einer Serie von drei Morden in Südlondon: Zwei 15-Jährige wurden durch Eindringlinge in ihren eigenen Schlafzimmern erschossen, ein 16-Jähriger auf einer öffentlichen Eislaufbahn.

"Jugendabteilungen" In allen Fällen geht Scotland Yard davon aus, dass auch die Täter minderjährig sind. Die Killer werden immer jünger und ihre Opfer auch. Es ist die perverse Konsequenz eines Gesetzes, das 2003 gerade gegen die Ausbreitung der Schusswaffenkultur erlassen worden war. Es sieht eine Mindeststrafe von fünf Jahren für unerlaubten Waffenbesitz vor; allerdings nur für Personen, die älter als 21 Jahre sind. Daher haben die Verbrecherbanden von Südlondon jetzt "Jugendabteilungen" eingeführt. Teenager werden angeworben, um für die Älteren die Schusswaffen zu tragen. Und sie setzen sie auch selber ein.

Der niedrige Preis für Schusswaffen macht die Sache noch schlimmer: Um 50 Pfund ist eine abgesägte Schrotflinte zu haben, eine Handfeuerwaffe kostet auf dem schwarzen Markt gerade einmal 150 Pfund. Das Innenministerium hat in einer kürzlichen Studie ein Profil dieser gewaltbereiten Teenager erstellt. Es handelt sich in der Regel um farbige Jugendliche, die vaterlos und ohne positives Rollenmodell aufgewachsen sind, sich mit Drogenhandel ihr Geld beschaffen und Gewalt einsetzen, um sich "Respekt", einen zentralen Grundwert in ihrer Umwelt, zu verschaffen.

Ein Übriges trägt der sozialökonomische Hintergrund der Jugendlichen bei: Verelendung, minimale Schulbildung, Aussichtslosigkeit auf dem Jobmarkt sowie eine Subkultur, in der Rapsongs Gewalt verherrlichen. Eine Aufklärungsaktion der Polizei versuchte im vergangenen Herbst, dem Trend entgegen zu wirken. "Eine Waffe zu tragen kann dich zu den coolsten Orten bringen" war auf den Postern zu lesen - vor dem Hintergrund eines ermordeten Jugendlichen im Leichenschauhaus. Geholfen hat es nicht viel. (Jochen Wittmann aus London/DER STANDARD-Printausgabe, 20.03.2007)