STANDARD: Hat mit der Erforschung der Epigenetik das alte Bild von der DNA als "Buch des Lebens", in dem alle Information festgeschrieben steht, ausgedient?
Jenuwein: Ja und nein. Stellen Sie sich ein Buch vor, das in vielen Exemplaren an einen Leserkreis verteilt wird. Der Text bleibt in allen Kopien derselbe, aber jeder einzelne Leser des Buchs wird die Geschichte auf etwas unterschiedliche Weise interpretieren. In sehr ähnlicher Weise ermöglicht die Epigenetik verschiedene Interpretationen einer festen Vorlage, eben des genetischen Codes, was je nach den Bedingungen, unter denen die Vorlage betrachtet wird, zu unterschiedlichen Lesarten führt.
STANDARD: Das klingt deutlich flexibler als die zahlreichen "Gen für irgendetwas gefunden"-Schlagzeilen der Vergangenheit.
Jenuwein: Wir wissen dank epigenetischer Forschung, dass es auch auf molekularer Ebene Mechanismen gibt, die über den genetischen Determinismus hinausgehen. Das beschert uns die Freiheit, als unverwechselbare, einmalige Individuen zu leben. Und das hat auch Folgen für die Medizin: Jedem Krebs etwa liegt irgendeine genetische Mutation zugrunde, aber ob sich aufgrund dieser Mutation auch tatsächlich ein Tumor entwickelt, hängt ganz stark von epigenetischen Faktoren ab. Wenn man diese Faktoren kennt, bietet das Ansatzpunkte für neue Therapien.
STANDARD: Gibt es, vergleichbar dem genetischen Code, einen epigenetischen Code?
Jenuwein: Wir wissen zwar noch nicht, wie der aussieht - aber ich glaube ja. Das versuchen wir unter anderem gerade herauszufinden. Es müsste ein Code sein, der uns zusätzlich zur genetischen Grundinformation zeigt, wann welche Gene wie aktiv sind.
STANDARD: Epigenetische Forschung findet seit Kurzem auch auf europäischer Ebene konzertiert statt. 2004 haben Sie mit zwei Kollegen das Europäische Epigenom-Exzellenznetzwerk ins Leben gerufen, das Sie als "virtuelles Institut" bezeichnen.